zum Hauptinhalt

Vietnam: Der Traum von Hanoi

Vietnams Hauptstadt Hanoi feiert ihren 1000. Geburtstag – und erlebt einen sagenhaften Bauboom. Vorbild sind Schanghai und Hongkong.

Die Zahl 10 steht bei den abergläubischen Vietnamesen für Magie. Vor 1000 Jahren, im Jahr 1010, wurde ihre Hauptstadt Hanoi gegründet. Fast drei Jahre lang bereitete sich die älteste Stadt Südostasiens auf ihren Geburtstag diesen Oktober vor. Am Ho Hoan Kiem, dem „See des zurückgegebenen Schwertes“, lief 999 Tage lang der Countdown: Eine Leuchttafel zählte die Tage bis zum 10. Oktober 2010.

Meterhohe Statuen von Volkshelden säumten die Straßen, rote Banner mit Hammer und Sichel spannten sich über die mit Lichterketten und Lotusblumen geschmückten Straßen. Entlang der Tran-Quang-Khai-Straße im Osten der Stadt verwandelten Arbeiter eine kahle Betonmauer in ein kilometerlanges Kunstwerk, das an die Berliner East Side Gallery erinnert.

Neben dem Hauptgebäude der Post steht die frisch polierte Statue des Stadtgründers Ly Thai To. Dem König war im Jahr 1010 am Roten Fluss ein goldener Drache erschienen, der in den Himmel stieg. Er gründete die Stadt an dieser Stelle und nannte sie Thang Long: aufsteigender Drache. Erst später wurde sie in Hà Nôi, „Flussbiegung“, umgetauft.

Das Zentrum entfernt sich heute immer weiter vom Fluss. Zwölf Kilometer westlich davon soll Hanoi bald Weltstadt sein. Noch wirkt die Landschaft archaisch. Pagoden verschwinden hinter dicken grünen Bananenstauden, Wasserbüffel grasen auf sattgrünen Reisfeldern, Hängebauchschweine dösen unter meterhohen Bambusbüschen. Es ist nicht lange her, da rissen die Bauern mit ihren kegelförmigen Hüten hier die rotbraune Erde auf, und ihre Frauen pflanzten in der Sonne hockend neuen Reis.

Heute verdienen die Bauern mit Reis kein Geld mehr. Sie mussten das Land an Investoren abgeben, ihre Felder haben sich in Goldminen verwandelt. Sie gehören jetzt den Visionären der Bauindustrie. So wie Hoang Huu Phe, ein kleiner, energischer Mann, der sehr schnell spricht. Der 56-Jährige hat nicht viel Zeit. „In Vietnam herrscht Goldgräberstimmung“, schwärmt der Leiter der Forschungs- und Entwicklungsabteilung des staatlichen Baukonzerns Vinaconex. Sein Traum ist ein neues Hanoi, eine internationale Technologie-Hauptstadt auf Augenhöhe mit Hongkong, Shanghai oder Kuala Lumpur.

Die Voraussetzungen sind günstig. 35 Jahre nach dem Vietnamkrieg spricht keiner mehr von Agent Orange oder der Tet-Offensive. 70 Prozent der Vietnamesen sind unter 30. In vielen Bars steht der Cocktail „B-52“ auf der Karte – die Jugend von Hanoi vergisst, dass es solche Flugzeuge waren, die ihr Land vor 40 Jahren mit einem Bombenteppich überzogen. Weder die Mädchen in ihren kurzen Tops noch die jungen Männer mit den Warhol-blonden Haaren interessieren sich für diese Geschichten. Nach hunderten Stunden Marxismus in der Schule zählt nur noch das Geld.

Mit „Doi Moi“, der Politik der Erneuerung, kam 1986 Vietnams Wirtschaft nach vielen Jahren sozialistischer Misswirtschaft langsam in Schwung, mittlerweile wächst sie mit durchschnittlich acht Prozent – und damit schneller als in den meisten anderen Ländern Südostasiens. Vietnam hat in der Armutsbekämpfung beachtliche Fortschritte gemacht. Fielen 1993 noch 58 Prozent der Vietnamesen unter die Armutsgrenze, waren es laut Uno 2009 nur noch zwölf. Die Wirtschaft nährt eine wohlhabende und wachsende Mittelschicht.

Und die baut. 7,6 Milliarden Dollar flossen laut Bauministerium 2009 in Immobilienprojekte – rund ein Drittel der ausländischen Direktinvestitionen. Was aus diesen Milliarden wird, ahnt man, wenn man Hoang Huu Phe in seinem Büro besucht. Ein Konferenztisch, Magnettafeln, Bauzeichnungen. Der kleine Mann mit dem sorgfältig gescheitelten Silberhaar hat eine Präsentation vorbereitet, seine Vision vom neuen Hanoi in Bildern. Das Handy surrt unentwegt. Jeder will mehr über Splendora erfahren – das Vorzeigeprojekt von Phe.

Splendora ist ein Hochglanzplan für den Westen Hanois, entlang einer noch unfertigen Autobahn, die bald zehn Spuren haben und die größte in Vietnam sein soll. Über Phes Leinwand flimmern künstliche Seen und baumgesäumte Wohnanlagen in 3-D. Schnellstraßen und eine U-Bahn sorgen für flüssigen Verkehr. Schöne Menschen kaufen in großen Supermärkten ein, asphaltierte Wege leiten Fußgänger durch „grüne Korridore“ zur Oper oder ins nächste Shopping-Center. Die Autobahn führt zum 40 Kilometer entfernten Hoa Lac im Südwesten, dem neuen „Silicon Valley Vietnams“.

„Schauen Sie sich Hongkong an oder Singapur“, sagt Phe. „Überall haben die Metropolen schon Satellitenstädte.“ Hanoi soll nachziehen. Noch leben die Reichen zentral entlang der Hung-Vuong-Allee, wo die Regierungspaläste, Museen und das Mausoleum des ewigen Präsidenten Ho Chi Minh stehen. Oder sie wohnen um den noblen Hanoier Westsee, im weiß getünchten Hochhaus-Reservat der Yuppies. Sein Eingangstor ist ein Abklatsch des Brandenburger Tors. Unweit davon steht die Villa des Neubürgers Mai Huy Tan, der sein Geld mit Thüringer Bratwurst verdient. Die Eingangshalle ist dem Florentiner Dom nachempfunden, an der Decke prangt eine Kopie von Raffaels „Triumph der Galatea“. Städteplaner Phe hofft, dass die Neureichen in solche aufgehübschten Außenbezirke ziehen.

Die Neureichen, die Arbeiter, die Armen, sie kommen von überall her. Die Sechs-Millionen-Metropole zieht Vietnamesen an, seit in Hanoi das Geld regiert. Mit pharaonischem Eifer schuften sich arme Bauern bucklig für ein paar Dong. Das ist besser als „vom Land“ zu sein. Vier, vielleicht fünf Millionen Ich-AGs arbeiten in den Straßen Hanois, knapp 100 Euro im Monat verdienen sie.

Da ist der Ohrenputzer, der sich mit Stirnlampe über seinen Kunden beugt. Die fliegende Händlerin, die ein ganzes Restaurant auf den Schultern trägt: Kochtopf, Geschirr, winzige blaue Plastikhöckerchen. Ihre Kollegin, die auch bei 40 Grad noch federnd durch den mörderischen Verkehr trippelt, zentnerschwere Melonen oder Mangos geschultert. Andere verkaufen Glückszahlen, transportieren auf knatternden Mopeds Goldfische in Plastiktüten oder firmieren am Straßenrand als Besitzer einer Säge.

Der Bauboom scheint die logische Antwort auf die überbevölkerte Stadt. Die Quadratmeterpreise in geplanten Satellitenstädten wie Splendora erreichen mit 1800 Euro bereits Berlin-Niveau. Nur zehn Prozent der Vietnamesen verfügen laut Uno über 30 Prozent des Nationaleinkommens. Wer soll also die vielen neuen Häuser bewohnen?

„Das ist nicht die Frage“, sagt Dang Hung Vo, ein Raumnutzungs-Experte, der zwischen 2002 und 2007 Vize-Umweltminister war. „Kein Mensch kauft eine Wohnung, um darin zu wohnen. Den Vietnamesen geht es allein um Profit.“ Dem 64-Jährigen mit dem Dreitagebart graut vor einer größer werdenden Blase. Er schätzt, dass mehr als ein Drittel der Häuser an Spekulanten geht, die weltweite Immobilienkrise scheint sie nicht abzuschrecken. Den Fonds an der Börse trauen die Vietnamesen nicht, und Devisen lassen sich im sozialistischen Einparteiensystem nur schwer außer Landes bringen. „Die Vietnamesen sind überzeugt, dass Immobilien die lukrativste Geldanlage sind.“

Männer wie Hoang Huu Phes bestärken sie – mit ihren Zukunftsvisionen von beeindruckenden Wolkenkratzern und einfachen Hochhäusern. Die Betonklone sind in Tarnfarben gehalten, mit identischen Fenstern, Balkonen, Türen und Schlafzimmern. „Wie die Plattenbauten in Ost-Berlin“, sagt Phe stolz. „Schließlich müssen wir uns auch um die Geringverdiener kümmern.“ Seine Pläne gehören zum Stadtentwicklungsprogramm „Hanoi Master Plan to 2010 and Vision to 2050“. Er legt fest, dass allein bis 2012 10 000 Wohnungen entstehen sollen.

Das Gesetz begünstigt diese Vision. Die Provinzregierungen können unter bestimmten Bedingungen Nutzungs- und Enteignungsrecht an private Investoren vergeben. In Vietnam gehört das Land der Partei, die Bürger können lediglich pachten, und der Staat kann sich den Boden „im öffentlichen Interesse“ zurückholen, wann immer er will. Die Folgen sind fatal: Die enteigneten Bauern haben es schwer, in der hart umkämpften Straßenhändlerwelt eine neue Arbeit zu finden, weil sie außer Feldarbeit nichts gelernt haben.

Hanh ist 30 Jahre alt. Sie ist klein, trägt ein zu großes Hemd, einen Hut und einen bunt gemusterten Mundschutz. Er gibt nur ihre Augen frei, die Lider sind staubbedeckt. Hanh ist Mutter zweier Kinder und lebt am Rande des künftigen Splendora mit den Schwiegereltern unter einem Dach. Jeden Tag fährt sie mit dem Fahrrad zwölf Kilometer in die Stadt. Sie klaubt Müll von den Straßen, sucht nach alten Plastikplanen, Kartons und Folien, bindet sie auf den Gepäckträger und bringt die Abfälle zu einer Recyclingfirma. Das gibt zwei, vielleicht drei Euro am Tag.

60 Millionen Dong, knapp 250 Euro, hat sie für 240 Quadratmeter Land bekommen, auf dem vielleicht bald ein Splendora-Banker seine Geschäfte machen wird. Hanh hatte gehofft, ihre Kinder könnten in Splendora Arbeit finden. „Aber dort wollen sie nur Hochqualifizierte“, sagt sie.

Die Enteigneten arbeiten als Friseure, Wachmänner, Motorradtaxifahrer oder profitieren auf ihre Weise vom Bauboom: Mit der Ausgleichszahlung bauen sie einfache Häuser in den Außenbezirken. In der Innenstadt finden sie längst keine bezahlbare Wohnung mehr. Die Bevölkerung wächst weiter, die Nachfrage auch, und die Grundstückspreise steigen in sagenhafte Höhen.

Ein Grund mehr, möglichst schnell und hoch zu bauen, finden die Planer. „Aber vietnamesische Architekten und Ingenieure haben damit kaum Erfahrung“, schimpft Ex-Minister Vo. „Ich fürchte, dass sie Sicherheitsstandards vernachlässigen, um Ausgaben zu drücken.“ So würden viele Häuser auf Aufschüttungen gebaut. Das bedeutet für die dicht besiedelten Wohngebiete ein hohes Überschwemmungsrisiko, zumal zur Regenzeit. Vo erzählt weiter, wie sich ausländische Investoren über die schlechte Ausbildung der Vietnamesen beschweren, über das fehlende Know-How – und die blühende Korruption im Verwaltungsapparat. All die Aufpasser, Kontrolleure und Mittelsmänner pochen auf ihren Anteil.

So wie im ehemaligen Seidendorf südlich vom Zentrum, „U-Silk-City“. Eine edle Hochhauslandschaft entsteht dort – mit Boutiquen und türkis schimmernden Swimming-Pools. Wenn alles fertig ist, ragen neun Türme bis zu 50 Etagen in den Himmel, jeder Turm glänzt in einem anderen Farbton, wie die Seide in der Sonne. Viele der 3059 eleganten Wohnungen, die so auch in Paris oder London nicht fehl am Platze wären, haben sich bereits vor Baubeginn gut verkauft. „Profitgier“, sagt Bauexperte Vo. Und die macht vor dem Allerheiligsten nicht halt.

Aus den Feldern an der unfertigen Autobahn vor dem zukünftigen Splendora ragen verstreut die geschwungenen Dächer tempelartiger Grabmäler. Noch sind die Dorffriedhöfe von Splendora unangetastet. Aber ein Abriss ist nicht tabu: In einem Neubaugebiet im Ha-Dong-Bezirk begruben Bauarbeiter kürzlich über Nacht fast 100 Gräber eines Friedhofs unter 1000 Kubikmetern Schlamm.

Die Nachricht ging in den Meldungen zur 1000-Jahr-Feier Hanois fast unter. Leider ließ die Kraft der magischen Zahlen am 10. Oktober etwas nach. Das Feuerwerk fiel bescheidener aus als geplant: Einige Tage zuvor war ein Feuerwerkslager in die Luft geflogen. Und die Parade im Stadion wirkte im Gegensatz zu chinesischen Bombastfeiern geradezu mickrig.

Der Geburtstag ist vorbei, die Parteioberen träumen weiter von der Weltstadt Hanoi. Ihre Handlanger, die Wanderarbeiter, sitzen derweil abends im Schutt der Baustellen. Bevor sie sich schlafen legen, gestatten sie sich, in eine andere bessere Welt zu fliehen. Sie schauen sich chinesische Seifenopern im Fernsehen an.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false