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Panorama: Russische Hymne: Staatstragende Zeilen

Wladimir Jakowlew kann es kaum noch sehen: "Sogar nachts träume ich von den staatstragenden Gedichtzeilen". Der St.

Wladimir Jakowlew kann es kaum noch sehen: "Sogar nachts träume ich von den staatstragenden Gedichtzeilen". Der St. Petersburger Gouverneur ist Russlands offizieller Beauftragter für Staatssymbolik. Und als solcher beschäftigt sich Jakowlew seit Wochen mit einem sensiblen Thema: der russischen Hymne. Welche Melodie, welcher Text passen am besten zum neuen Russland? Täglich ließ sich der Gouverneur auf dem Weg zur Arbeit in seinem Dienstwagen CDs mit verschiedenen Vorschlägen vorspielen. Er wühlte sich durch Unmengen getragener Reime, die patriotisch gesinnte Hobby-Dichter an die Kommission eingeschickt hatten.

Heute soll der neu gegründete Staatsrat, ein Gremium aus Russlands Gouverneuren, sich in seiner ersten Sitzung auch mit der Hymnen-Frage beschäftigen. Das Debakel um das Nationalsymbol gärt in Russland schon, seit Boris Jelzin 1991 die alte Sowjet-Hymne abschaffen ließ. Sie wurde ersetzt durch das "Patriotische Lied" des Komponisten Michail Glinka. Weil man sich auf keinen Text einigen konnte, blieb die neue Melodie ein Provisorium: Die Anwesenden müssen bei offiziellen Anlässen stumm stehen und lauschen.

Damit soll nun Schluss sein. Und es sieht danach aus, als hätte sich Gouverneur Jakowlew die viele Arbeit mit den neuen Entwürfen für Text und Melodie sparen können. Seine Arbeitsgruppe Staatssymbolikhat hat nämlich in ihrem Strategiepapier eine Entscheidung vorbereitet, die offenbar auch der Kreml favorisiert: Die Rückkehr zur alten Hymne der Sowjetunion. Nach Umfragen russischer Meinungsforschungsinstitute will auch die Mehrheit der russischen Bevölkerung die alte Hymne wiederhaben. Stalin gab sie1944 bei dem Komponisten Alexander Alexandrow und dem Dichter Sergej Michalkow in Auftrag. Rund 50 Prozent der Befragten gaben an, die sehnten sich nach der alten Melodie. Nur 15,5 Prozent der russischen Bürger können sich mit der derzeitigen Lösung, Glinkas "Patriotischem Lied", identifizieren. Weitere vier Prozent befürworten gar eine Rückkehr zu "Gott erhalte den Zaren" - der vorrevolutionären Hymne, die 1917 von den Bolschewisten durch die "Internationale" ersetzt wurde.

Die Gründe dafür, dass vielen Russen die alten Sowjethymne so ans Herz gewachsen ist, hat Moskaus Oberbürgermeister Jurij Luschkow auf den Punkt gebracht: "Sie ist majestätisch imposant und entspricht der Feierlichkeit, die eine Hymne haben muss". Die wahren Motive für die anhaltenden Liebe zur Stalin-Hymne sind aber wohl psychologischer Natur: "Der moderne russische Staat, mit dem die Glinka-Hymne assoziiert wird, gilt im Bewusstsein der Bevölkerung nicht als solide", analysiert die Tageszeitung "Izwestija". Die alte Hymne dagegen appelliert an die Großmacht-Nostalgie vieler Russen. Und mit "Großmacht" verbinden zwei Drittel aller Befragten "hochentwickelte Industrie" und "hohen Lebensstandard". Dass sich beides automatisch einstellt, sobald die Rückkehr zur Sowjethyme beschlossene Sache ist, ist allerdings kaum zu erwarten.

Auch Präsident Wladimir Putin, so sickerte aus dem Kreml durch, hat einen Faible für die Sowjetmelodie. Und ein neuer Text soll bereits gefunden sein. Spricht der Staatsrat heute eine Empfehlung aus, hat das letzte Wort das Parlament. Denn bevor die Russen bei feierlichen Anlässen wieder ihre geliebte Melodie singen dürfen, muss erst die Duma den Wechsel des nationalen Symbols als Gesetz beschließen.

Doris Heimann

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