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Panorama: Schlange stehen: Warum stellen Sie sich so an?

Jeder deutsche Schüler hat es im Englischunterricht gelernt und doch nie glauben können. Bis er es dann auf Klassenfahrt mit eigenen Augen sah: Engländer bilden an der Bushaltestelle und auch sonst bei jeder sich bietenden Gelegenheit eine geordnete Schlange.

Jeder deutsche Schüler hat es im Englischunterricht gelernt und doch nie glauben können. Bis er es dann auf Klassenfahrt mit eigenen Augen sah: Engländer bilden an der Bushaltestelle und auch sonst bei jeder sich bietenden Gelegenheit eine geordnete Schlange. Es ist kein Mythos, sondern Realität. Jetzt haben Forscher erstmals untersucht, wie das Inselvolk diese vom Rest der Welt so bestaunte zivilisatorische Leistung erbringt.

Wenn man den Anthropologen Joseph Henrich und Robert Boyd glauben darf, dann macht das Schlangestehen den Engländer zur Krone der Schöpfung. Diese Art der "freiwilligen Interaktion mit Fremden" sei die "höchste Form kooperativen Gruppenverhaltens" und in diesem Sinne Gipfelpunkt der menschlichen Evolution schlechthin.

Richtiges Schlangestehen will gekonnt sein. Der Abstand zum Vordermann muss sehr genau eingeschätzt werden. Rückt man zu dicht auf, fühlt sich dieser in seiner Intimsphäre gestört und schaut sich um - ein schwerer Fauxpas. Lässt man aber zu viel Platz, wird der als nächstes Dazukommende unweigerlich fragen: "Are you in the queue?" (Stehen Sie in der Schlange?). Das hört sich zwar höflich an, heißt aber nichts anderes als: "Wissen Sie Trottel noch nicht mal, wie man sich anstellt?" Als Faustregel für den richtigen Abstand empfahl der "Guardian", man solle so viel Platz lassen "wie beim Tanzen mit Großtante Hildegard".

England-spezifisch ist die "Ein-Mann-Schlange". Ein Engländer, der zu einer Bushaltestelle kommt, an der noch keiner steht, wartet dort nicht einfach irgendwie, sondern nimmt die so genannte Schlangenkopf-Position ein. Kommt als nächstes ein Tourist dazu, der sich nicht auskennt und sich deshalb nicht hinter ihn stellt, wird er mit den Worten belehrt: "This is a queue." (Dies ist eine Schlange.) Weil es in London so viele Touristen gibt, die sich aus Unkenntnis vordrängeln, sind die Londoner Schlangen im Rest des Landes bereits in Verruf geraten.

Dass Schlangestehen eine ernste und komplizierte Angelegenheit ist, zeigt sich auch daran, dass noch nie ein Liebespaar behauptet hat, sich in der Schlange kennen gelernt zu haben. In der Schlange spricht man nicht. Eine Umfrage unter 1200 Schlangestehern in London ergab, dass Männer beim Warten vor allem den Frauen nachschauen, Zeitung lesen oder über Fußball nachsinnen. Die Frauen machen sich Gedanken übers Einkaufen oder träumen vom Urlaub.

Die meisten Engländer sind davon überzeugt, dass sie sich im Supermarkt oder im Postamt grundsätzlich in die falsche Schlange einreihen und länger warten als die anderen. Dies ist jedoch nach Erkenntnissen von Mathematikern der Aston University in Birmingham eine Täuschung: Da man meist noch die Schlange rechts und links von sich im Auge behält, stehen die Chancen nach den Gesetzen der Wahrscheinlichkeit 2 zu 1, dass es in einer dieser beiden Schlangen schneller geht als in der eigen.

Und auch das ist belegt: Die Schlange kann Leben retten, denn in brenzligen Situationen bewahrt sie den Engländer oft vor Panik. Als 1999 in London zwei Züge entgleisten, bildeten verletzte Passagiere auch beim Verlassen eines umgestürzten Waggons eine Schlange. Eine Frau erinnerte sich hinterher, wie ihr ein Mann sogar den Vortritt gelassen habe: "Nach Ihnen", sagte er.

Christoph Driessen

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