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Panorama: Sein erstes Opfer

Warum hat sie die Mädchen in ihrem Keller nicht gerettet? Ein Psychogramm der Ehe- frau von Marc Dutroux

Es ist eines der Schlüsselfotos dieses Prozesses, doch es ist auf den ersten Blick völlig harmlos. Michelle Martin lächelt in die Sonne, sie sitzt mit einem ihrer drei Kinder in einem Ausflugsboot auf der Maas. Im Hintergrund sieht man die steile Felsküste von Dinant mit der Zitadelle. Es ist ein Foto, das Friede und Zuversicht ausstrahlt. Michelle Martin war kurz zuvor nach Dinant zu ihrer Mutter gefahren und verbrachte dort einige entspannte Urlaubstage. Sie sieht gelöst aus auf dem Bild, der Wind zerzaust ihr langes Haar, eine Frau in den Dreißigern.

Die Polizei fand das Foto später bei einer Hausdurchsuchung. Die Ermittlungen ergaben, dass zum gleichen Zeitpunkt, als es aufgenommen wurde, zwei von ihrem Ehemann Marc Dutroux entführte Mädchen im Kellerverlies seines Hauses gefangen saßen. Michelle Martin wusste davon, ihr Mann pflegte ihr anzukündigen, wenn er wieder auf die Jagd ging. Nach jeder gelungenen Entführung rief er sie an. Das war der Grund, warum Michelle Martin mit ihren Kindern zu ihrer Mutter gefahren war. Das Haus in Marcinelle war zu klein für so viele Personen. Die Kinder sollten nicht im Haus sein, wenn Vater Dutroux wieder einen leblosen kleinen Körper in den Keller schaffte.

Für die Prozessbeobachter und die Anwälte des Prozesses in Arlon ist Michelle Martin ein Rätsel. Die 44-Jährige, einst Grundschullehrerin, sitzt in ihrer Glaszelle, meldet sich nur selten zu Wort, stellt nie Fragen. Eine große, blonde Frau, mit einem von Stress gezeichneten Gesicht. Sie hat die beiden überlebenden Opfer, Sabine Dardenne und Laetitia Delhez, die dem Prozess seit Wochen als Nebenkläger folgen, um Entschuldigung gebeten. Aber die haben sie verweigert. „Sie hätten etwas tun können, Sie, Mutter von drei Kindern“, wies Sabine sie zurecht.

Ende der 80er Jahre war Martin selbst zu fünf Jahren Haft verurteilt worden, weil sie ihrem Mann bei der Entführung und Vergewaltigung Minderjähriger geholfen hatte. Die entscheidende Frage hat sie nie beantwortet: Warum hat sie die beiden achtjährigen Mädchen, Julie und Melissa, nicht befreit, als ihr Mann 1995 erneut ins Gefängnis kam? Warum hat sie die Polizei nicht zu dem Kellerverlies geführt? Sie habe Angst vor ihm gehabt, er habe sie geschlagen, angebrüllt, vergewaltigt, wiederholt sie dann stereotyp. Angst vor Dutroux, selbst als dieser monatelang hinter Gittern verschwand und die Mädchen im Keller langsam und qualvoll verhungerten?

Um eine Erklärung für Martins Verhalten zu finden, verweisen Psychologen gerne auf einen anderen Fall, der sich in Holland ereignete. Dort wurde ein Mädchen, in den Zeitungen nannte man sie das „Mädchen von Nulde“, monatelang vom Lebensgefährten ihrer Mutter gequält und schließlich totgeschlagen. Die Mutter hatte tatenlos zugesehen, sogar geschehen lassen, dass ihr Freund den Körper zerstückelte. „Ich weiß nicht, warum ich nicht eingegriffen habe“, sagte sie vor Gericht, „ich hätte mein Kind schützen sollen.“ Frauen, die lange Zeit misshandelt und unterdrückt würden, erläuterten die psychologischen Sachverständigen vor Gericht, verlören dadurch ihr Selbstwertgefühl. Sie erklärten sich ihre Demütigung damit, dass sie weniger wert seien als andere und akzeptierten unbewusst ihre Qualen als Strafe für ihre Minderwertigkeit. Mit der Zeit werde ihr Wille damit so sehr gebrochen, dass sie sogar tatenlos zusehen könnten, wie ihre Kinder getötet würden. Die Mutter des Mädchens war monatelang von ihrem Freund misshandelt und terrorisiert worden.

Marc Dutroux musste nicht erst Michelle Martins Willen brechen, um sie zu seiner Komplizin zu machen. Als Schulkind war Michelle neben ihrem Vater im Auto gesessen, als dieser bei einem Verkehrsunfall ums Leben kam. Er war zu schnell gefahren, weil Michelle auf dem Schulweg etwas zu Hause vergessen hatte und er deshalb umkehren musste. Michelles Mutter, eine dominante, nach Aussagen mancher Zeugen geradezu tyrannische Frau, machte ihre Tochter für den Tod des Vaters verantwortlich.

In der Schule sei sie ein schüchternes Mädchen gewesen, erinnerte sich ein Lehrer, so unterwürfig, dass er gedacht habe: „Pass auf Mädel, sonst wirst du der Vogel für die Katze.“ Beim Eislaufen traf sie dann Dutroux. „Er wurde mein Gott, so wie mein Vater das gewesen war“, sagte Michelle Martin später in der Haft.

Die Ehe mit Marc Dutroux war Martins Flucht vor ihrer erdrückenden Mutter. Doch Dutroux betrog sie ständig, er schwärmte von Dreiecksverhältnissen, war zugleich aber enorm besitzergreifend und eifersüchtig, schlug sie regelmäßig. Durch ihn, so sagten mehrere Zeugen aus dem privaten Umfeld Martins vor Gericht aus, sei sie ein ganz anderer Mensch geworden. Ihre tief verwurzelte Furcht, von einem Partner verlassen zu werden, wie ihr Vater sie verlassen hatte, habe sie gehindert, sich Dutroux zu widersetzen, sagte einer der Psychologen. „Sie ist eine Frau, die sich bedingungslos unterwirft und dabei jedes Selbstwertgefühl verliert.“ Weder die Anwälte der Nebenkläger noch der Staatsanwalt wollten verstehen, warum die Unterwerfung unter ihren Mann selbst noch funktioniert habe, als dieser schon lange hinter Gittern saß und die beiden Kinder im Keller langsam verhungerten. Sie habe in zwei getrennten Welten gelebt, erklärte Psychologe Christian Mormont, einer alltäglichen, in der sie Einkäufe verrichtete und mit ihren Kindern Ausflüge machte und einer zweiten, die völlig von ihrem Mann beherrscht wurde.

Erst in der Haft stellte sich Michelle Martin gegen ihren gefürchteten Mann. Nach jahrelanger psychologischer Begleitung ließ sie sich nach 15 Jahren Ehe scheiden und sagte gegen ihn aus – worauf er sie belastete. Er nennt sie noch weihevoll „meine Ehefrau“, sie spricht nur von „dem Dutroux“, als habe sie ihn weit von sich weggeschoben. Ihre Entschuldigungen an die Adresse der Opfer und Hinterbliebenen sind immer noch hölzern und stereotyp, doch ihre Aussagen scheint sie ohne Rücksicht darauf zu machen, ob sie sich damit selbst belastet. Sie habe sich verändert, konstatieren Psychologen. „Sie lässt jetzt moralische Fragestellungen an sich heran, erforscht ihr Gewissen und macht Zukunftspläne.“ Eine Vorzeigegefangene, sagten Justizbeamte.

Doch im Prozess geht es um Schuld und Sühne, um die Frage, die die Nebenkläger immer wieder stellen: Hatte Martin keinen freien Willen mehr? Ob die Geschworenen Mitte Juni die Fragen zu Michelle Martins Gunsten entscheiden werden, ist fraglich. Im Prozess gegen die Eltern des „Mädchens von Nulde“ verurteilten die holländischen Berufsrichter 2003 die psychisch gestörte Mutter wegen Beihilfe zum Totschlag zu acht Jahren Gefängnis. Schlechte Aussichten für Michelle Martin, denn Geschworene urteilen meist emotionaler und härter als Berufsrichter.

Klaus Bachmann[Arlon]

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