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Panorama: Sir Rebell

Er holte den Blues nach Europa und brachte mehr als einen Stein ins Rollen: Mick Jagger wird 60

Eine der schicksalsträchtigsten Begegnungen des 20. Jahrhunderts fand im Oktober 1960 in einem Pendlerzug statt, der aus dem südenglischen Städtchen Dartford in Richtung London unterwegs war. Die beiden nicht einmal 17-jährigen Jungs, die zufällig in denselben Waggon stiegen, waren einander schon an der Grundschule über den Weg gelaufen, aber ins Gespräch gekommen waren sie nie. Der eine hatte ein paar amerikanische Blues-Platten unter dem Arm, Platten von Little Walter, Muddy Waters und Chuck Berry, der andere war schwer beeindruckt. „Was“, sagte er, „du stehst auf Chuck Berry? Mann, so ein Zufall. Ich kann das Zeug spielen“. „Ich habe sogar eine kleine Band“, entgegnete sein Gegenüber, „und ich habe noch mehr Platten.“ Der Junge mit den Platten unter dem Arm hieß Mick Jagger, der Mitreisende, der schon ein bisschen Gitarre spielen konnte, war Keith Richards. Kurz darauf trafen sie sich in Richards’ elterlicher Wohnung, tranken Tee und hörten sich die Platten an. Der Rest ist Musikgeschichte.

„Einfach in diesem Zugwagen zu sitzen, das war, als hätten wir einen Pakt miteinander geschlossen, ohne es zu wissen“, erinnert sich Keith Richards. Tatsächlich sind Jagger und Richards bis heute unzertrennlich, auch wenn immer mal wieder die Fetzen flogen zwischen ihnen. Seitdem die Rolling Stones, ihre Band, zum ersten Mal im Juli 1962 im Londoner „Marquee“-Club auftraten, sind sie praktisch ununterbrochen auf Achse. Gerade sind sie mit der Jubiläumstour „Forty Licks“ unterwegs, am Sonntag werden sie vor 65 000 Zuhörern in Prag spielen. Hinter mehr als 250 Songs steht inzwischen die Autorenbezeichnung „Jagger/Richards“, ein Markenzeichen, das in seiner Strahlkraft allenfalls noch von „Lennon/McCartney“ übertroffen wird. Heute wird Mick Jagger 60 Jahre alt, man mag das kaum glauben. Denn das Älterwerden kommt im Werk der Rolling Stones praktisch nicht vor.

Während sich die Beatles schon mit Mitte 20 ausmalten, wie es wohl sein würde, „when I’m sixty-four“, singen die Stones bis heute: „Time is on my side“. Was ja auch stimmt, die Zeit ist noch immer auf ihrer Seite. Mit ihrer jüngsten Tournee und dem dazugehörigen Album haben sie allein in den USA rund 113 Millionen Dollar umgesetzt, das Fachblatt „Amusement Business“ bezeichnet sie als „bestverdienende Band der Welt“. „What a drag it is getting old“, nölt Jagger in „Mother’s Litte Helper“, Altwerden ist eine beschissene Sache. Seine Karriere hat den Satz eindrucksvoll widerlegt.

Wie man mit Geld umgeht, hat Mick Jagger an der London School of Economics gelernt, an der er Anfang der 60er Jahre ein paar Semester studiert hat. Verträge handelt er gerne per Handy beim Golfspiel aus, sein Vermögen wird auf 240 Millionen Euro geschätzt. Die Stones haben bis heute ihr proletarisches Rebellenimage bewahrt, dabei entstammen sie der britischen Mittelschicht. Jaggers Vater war Sportprofessor und führender britischer Experte für amerikanischen Basketball, die Mutter arbeitete als Kosmetikvertreterin. Mit 14 bekam er eine Gitarre geschenkt, kurz darauf begann er, bei US-Labels Bluesplatten zu bestellen. Im Grunde ist das, was die Stones getan haben, ein gigantischer Kulturtransfer: Sie holten die schwarze Musik des amerikanischen Südens nach Europa. „Es herrschte eine Kreuzzugmentalität“, sagt Jagger. „Rhythm and Blues war das Anliegen einer Minderheit, das verteidigt werden musste.“

Anfangs coverten die Stones noch die Stücke ihrer Idole, ab 1964 schrieben sie auch eigene Songs. Mit „Satisfaction“ schafften sie 1965 den Durchbruch. Dem Blues-Schema sind Jagger/Richards beim Komponieren treu geblieben, allerdings passten sie ihre Platten im Sound immer wieder behutsam an den Zeitgeist an. Die Arbeitsteilung zwischen Jagger und dem ein Jahr jüngeren Richards, den „Glimmer Twins“, funktioniert symbiotisch: Der Sänger ist Manager, Cheftexter und Aushängeschild, der Gitarrist der genialische Saitentüftler. Ihre Soloprojekte waren nur mäßig erfolgreich, gemeinsam sind sie unschlagbar. Noch immer tanzt Jagger bei den Konzerten wie entfesselt über die Bühne, die lasziv-ekstatische Hüftarbeit soll er bei Tina Turner abgeguckt haben. „Ich bin doch nur der Zeremonienmeister, der den Leuten hilft, eine gute Zeit zu haben“, sagt er. An seinem Geburtstag will der siebenfache Vater, der eine 20-Zimmer-Villa in London und ein Schloss in Frankreich besitzt, mit Vaclav Havel anstoßen, einem alten Freund. Mick Jagger wird noch lange weiterrocken.

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