zum Hauptinhalt

Gestern im Westen: West-Berlin in den 60ern - eine Zeitreise

Heinz Noack zieht 1963 mit der Kamera los, er dokumentiert die westliche Hälfte Berlins nach dem Mauerbau. Hier zeigen wir eine Auswahl seiner Farbbilder. Dazu beschreibt ein Tagesspiegel-Redakteur die Stadt seiner Kindheit.

Von Andreas Austilat

Ich wurde im April 1963 in Berlin-Zehlendorf eingeschult. Leider kann ich beim besten Willen nicht mehr sagen, welche Farbe meine Schultüte hatte. Die Erinnerung daran ist verblasst. So wie die Stadt mir im Gedächtnis merkwürdig farblos vorkommt. Vielleicht habe ich zu viele Schwarz-Weiß-Bilder aus meiner Kindheit gesehen. Und auf den paar privaten Farbbildern ist nur Rot übriggeblieben, die anderen Farben haben sich im Verlauf der letzten 50 Jahre einfach aufgelöst. Weshalb meine Tochter im Alter von ungefähr vier Jahren feststellte, wie froh sie sei, heute zu leben, weil, „meine Welt ist bunt, deine war schwarz-weiß“. War sie nicht!

Ebenfalls im Jahr 1963 nahm sich der Senatsmitarbeiter Heinz Noack vor, „seine Stadt“ mit dem Fotoapparat zu dokumentieren. Er zog von Wilmersdorf aus los, seine Stadt war auch meine, und es handelte sich zwangsläufig nur um die halbe. Sie endete ringsum an der Mauer, die zwei Jahre zuvor errichtet worden war.

Noack begann sein Vorhaben an einem Sonntag im Spätsommer. Jahrzehnte später hat sein Enkel aus tausenden Aufnahmen 180 Fotos für einen Bildband ausgewählt. Vielleicht wurden Noacks Bilder bearbeitet, man sieht auf ihnen nie eine Wolke. Vielleicht zog er aber auch einfach nur bei schönem Wetter los: Über Noacks West-Berlin scheint immer die Sonne. Der Himmel ist blau, die Stadt keineswegs schwarz-weiß. Auch wenn man für den Putz der Häuser damals offenbar nur zwei Farben zur Auswahl hatte: Grau oder Braun.

Unser Haus war von hellem Braun, im Putz klebten kleine Steinchen, die ich als Kind gern herauspolkte. Auch die Autos wurden damals in erheblich weniger Farben ausgeliefert. Den Käfer Jahrgang 1963 gab es standardmäßig nur in „Jupitergrau“ und „Riedgrün“, gegen Aufpreis bekam man ihn allerdings unter anderem auch in „Türkis“ oder „Rubinrot“.

In seinem Vorwort zu diesem Bildband schreibt Heinz Noacks Enkel, Tobias Hellmann, in West-Berlin lebte man zwei Jahre nach dem Mauerbau mit dem Gefühl, eingesperrt zu sein. Kann sein, dass das so war, doch als Kind merkte ich davon nichts. Obwohl ich nur ungefähr einen Kilometer von der Grenze entfernt aufwuchs, die bei uns durch den Teltowkanal markiert wurde. Außer, dass man mir einschärfte, auf keinen Fall dort ins Wasser zu fallen, weil nicht ganz sicher wäre, ob Helfer aus dem Westen mich wieder rausfischen dürften. Der Kanal gehörte wohl schon „dem Osten“.

Im täglichen Leben nahm ich die Grenze nicht wahr, trotz des vielen Stacheldrahts und selbst wenn ich direkt davorstand. Daran änderten nicht einmal die großen Plakate etwas, sie standen auch am Teltowkanal, auf denen man der Gegenseite die eigenen Erfolge vorhielt. Drüben stand irgendwas von Planerfüllung, ich meine mich daran zu erinnern, dass bei uns darauf hingewiesen wurde, wie viele VW-Käfer schon vom Band gelaufen waren. Übrigens ab 1963 auch mit Stahlschiebedach, der auf dem Bild vom Stuttgarter Platz oben hat noch keins.

Das Mädchen erschrak: "Wir sind eingemauert"

Wie sehr man die Grenze aus dem Bewusstsein verdrängen konnte, erfuhr ich noch Mitte der 80er Jahre an einer Neuköllner Gesamtschule. Ich war dort Referendar. In der siebten Klasse, es kann auch die achte gewesen sein, stand „Deutschland“ auf dem Lehrplan. Natürlich ging es auch um Berlin. Ich hatte ein Mädchen in der Klasse, die kriegte fast einen Nervenzusammenbruch, als sie an der Wandkarte erkannte, „wir sind eingemauert“. Es war also möglich, in West-Berlin 13 Jahre alt zu werden, ohne das vorher bemerkt zu haben.

In der Stadt gab es 1963 noch zahlreiche Kriegsruinen. Noack hat sich für diese nicht übermäßig interessiert. Auch das entspricht meiner Wahrnehmung. Es gab kaputte Häuser. Warum, habe ich mich eigentlich nicht oft gefragt. Es störte einen auch nicht, im Gegenteil, man konnte prima darin spielen. Oder warum hatten ziemlich viele Männer über 40 wie zum Beispiel der Parkwächter bei uns, den wir wegen seines schiefen Gangs „Parkeule“ nannten, nur ein Bein? Oder wie der Fahrstuhlführer im KaDeWe nur einen Arm? Ich habe mehr darauf geachtet, wann er endlich „dritter Stock – Spielwaren“ sagte.

Wenn wir ins KaDeWe fuhren, das taten wir alle Jubeljahre, sagte meine Mutter, „wir fahren in die Stadt“. Wenn wir nach Neukölln fuhren, dort wohnten meine Großeltern, sagte sie das nicht. Obwohl diese Reise viel abenteuerlicher war. Wir nahmen die S-Bahn, die auch im Westen von der Ost-Reichsbahn betrieben und deshalb eigentlich von West-Berlinern boykottiert wurde. Die uralten Züge stammten noch aus der Vorkriegszeit, die Rolltreppe im Bahnhof Schöneberg war aus Holz, dafür waren die Tickets etwas billiger als bei der West-Berliner BVG und aus dicker Pappe.

Am Bahnhof Hermannstraße stiegen wir in einen Doppeldecker der BVG um. Bis 1963 gab es diesen Bustyp mit offener Plattform hinten. Man konnte auf- und abspringen, wenn man sich traute. Im Winter hing dort ein dunkelgrüner Filzvorhang, damit es nicht so zog. Einmal sah ich einen Betrunkenen, der sich taumelnd an der Haltestange festhielt und schließlich von der offenen Plattform kotzte. Ich rechnete fest damit, dass er hinterherfallen würde, was er nicht tat. Noch mehr habe ich aber den Schaffner bewundert, der so eine metallene Box vor der Brust hatte, aus der er lässig das Kleingeld rausklickte. Über dem Daumen hatte er einen Gummiüberzug, mit dem er den Papierfahrschein von einem Block abriss.

So eine Ausrüstung hätte ich gern gehabt. Obwohl sein Job ziemlich hart war. Vor allem, wenn er auf das Oberdeck musste, wo er nur gebückt laufen konnte. Und weil noch geraucht werden durfte, stank es auch sehr.

Noack zeigt ländlich anmutende Idyllen und die vielen Baustellen im Berlin jener Jahre. Kräne drehen sich über Buckow/Rudow, wo die Gropiusstadt entstand und an der Ost-WestAchse. Schilder künden von großen Vorhaben. Gebaut wurde auch unter der Erde. In Wilmersdorf die U 7, in Steglitz die U 9. Jahrelang fuhr ich in Bussen, die über die Behelfsfahrbahn der Steglitzer Schlossstraße rumpelten. Damals klebten vielerorts gelbe Plakate mit der Aufschrift, „Sei schlau, lern beim Bau.“ Ich war direkt überrascht, als dort die U-Bahn in den 70ern endlich fuhr. So, als ob man nicht mehr daran geglaubt hätte. Man kann das vielleicht vergleichen mit Unter den Linden, wenn da plötzlich alle Baustellen verschwinden würden. Andreas Austilat

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false