zum Hauptinhalt

Dr. WEWETZER: Draht zur Außenwelt

Hartmut Wewetzer .

Taubheit muss kein Schicksal mehr sein. Vielen Kindern, die gehörlos zur Welt kommen, oder Erwachsenen, die ertaubt sind, kann ein Cochleaimplantat helfen, ein weitgehend normales Leben zu führen. Das Cochleaimplantat ist eine Hörprothese, die in der Schnecke (Cochlea) des Innenohrs verankert wird. Voraussetzung ist, dass der Hörnerv selbst noch intakt ist. Ein am Ohr befestigtes Mikrofon funkt Hörsignale an einen Empfänger, der oberhalb des Ohrs unter der Haut am Schädelknochen verankert ist. Von hier aus werden die Impulse über feine Drähte, Elektroden, an den in der Cochlea eingelassenen Hörnerv übertragen. 300 000 Menschen hören heute dank Cochleaimplantat, 30 000 von ihnen in Deutschland.

Die ersten groben Versuche, das Innenohr elektrisch zu reizen, liegen mehr als 50 Jahre zurück. Den Experimentatoren schlug Ablehnung entgegen. Die Idee, Tauben Gehör zu geben, wurde als wissenschaftlich naiv oder als Angriff auf die Gehörlosenkultur angesehen. Eines der großen Probleme war die Schwierigkeit, Sprache in für den Hörnerv „lesbare“ elektrische Signale zu zerlegen. „Ende der 1970er Jahre mussten Patienten mit einem Cochleaimplantat ein Jahr lang täglich mehrere Stunden üben“, berichtet der HNOArzt und Cochlaimplantat-Experte Hans-Peter Zenner von der Universität Tübingen. Das hat sich dank Ingenieurskunst und Mikroelektronik geändert. „Mit großer Zuverlässigkeit können ertaubte Erwachsene heute Tage oder Woche nach Einsetzen eines Implantats wieder telefonieren, gehörlose Kinder erlernen ihre Muttersprache, machen ihren Schulabschluss oder studieren sogar – manche werden HNO–Ärzte“, sagt der Mediziner.

Bei Kindern sei entscheidend, dass das Implantat früh eingesetzt wird, am besten zwischen dem sechsten und zwölften Lebensmonat. Die für den Spracherwerb prägende Phase erstreckt sich bis zum vierten Lebensjahr. Ein danach eingepflanztes Implantat kann die verlorene Zeit nicht mehr völlig aufholen. Zenner hofft, dass das 2009 eingeführte Früherkennungsprogramm für Hörstörungen bei Neugeborenen dazu beiträgt, Problemfälle rechtzeitig zu erkennen.

Das Einsetzen des Implantats (Kosten insgesamt etwa 30 000 Euro) geschieht unter Vollnarkose und dauert mehrere Stunden, neben einer Infektion als häufigster Komplikation können seltener Schwindel oder die Lähmung eines Gesichtsnervs auftreten. Zenner rät, sich in einem erfahrenen Zentrum operieren zu lassen. Inzwischen werden nicht selten beide Ohren „verkabelt“.

Den Medizin-Nobelpreis werden die Pioniere des Cochlea-Implantats wohl nie bekommen, denn der ist für die theoretische Grundlagenforschung reserviert. Immerhin wurden mit Graeme Clark (Australien), Ingeborg Hochmair (Österreich) und Blake Wilson (USA) nun drei Vorreiter des Verfahrens mit dem amerikanischen Lasker-DeBakey-Preis für klinisch-medizinische Forschung ausgezeichnet. Eine höhere Ehrung für „Macher der Medizin“ gibt es nicht.

Unser Kolumnist leitet das Wissenschaftsressort des Tagesspiegel. Haben Sie eine Frage zu seiner guten Nachricht?

Bitte an: sonntag@tagesspiegel.de

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false