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Moritz Rinke sammelt Erinnerungen an die Gegenwart: Hochzeit oder türkische Revolution

Am 31. Mai habe ich mir am Abend in Istanbul einen Anzug gekauft, für eine Hochzeit, meine eigene, danach ist die Revolution ausgebrochen.

Ich lief mit dem Anzug in der Anzughülle unterm Arm durch den Gezi-Park, wo Menschen zusammengekommen waren, um gegen die Abholzung von Bäumen zu demonstrieren, die einem gigantischen Bauprojekt der Regierung weichen sollen.

Ich versuchte aus dem Gezi-Park zu kommen, wo mittlerweile 50 000 Menschen nicht nur für die Bäume, sondern auch gegen die als diktatorisch empfundene islamisch-konservative Erdogan-Regierung protestierten. Einmal rammte ich versehentlich meinen Bügel vom Anzug in einen Demonstranten. Ich entschuldigte mich, er rief: „Nieder mit Tayyip Erdogan!“ Auch in Ankara, Antalya, Dersim oder Fethiye gingen die Leute auf die Straße. Ebenso in New York, Berlin, Hamburg, Köln, Duisburg und sogar in Bielefeld!

Auf dem Taksim-Platz, wo unterdessen 100 000 Menschen waren, setzte die Polizei Tränengasgranaten und Wasserwerfer ein, so dass ich mir meinen Hochzeitsanzug vors Gesicht hielt. Meine türkische Freundin koordinierte aus Kreuzberg über Facebook ihre revolutionären Freunde am Taksim-Platz. „Warte vor dem Porta-Pera-Café! Ismail, Taylan, Yavuz, Imran, Tan, Bihter, Selda und Hilal kommen auch dorthin, dann könnt ihr euch organisieren!“

Bisher habe ich diese Türkei ja nie so richtig verstanden. Von außen gesehen ein hochkapitalistisches Land, durch Erdogan vom Militär befreit, florierende Märkte, irrsinnige Bauvorhaben, den größten Flughafen Europas etwa. Aber von innen her trocknete die Türkei immer mehr aus: Alkoholverbote. Zunehmend verhüllte Frauen. Gleichschaltung der Presse. Kino- und Theaterschließungen. Eine chinesische oder saudi-arabische Türkei, kurz vor der Scharia, mit einem Investmentdiktator und Demokratieverständnis wie bei Putin.

Und nun das.

„Serkan bringt Atemschutzmasken mit! Bleib da, wo du bist!“, hieß es in der nächsten Nachricht aus Kreuzberg.

670 Tonnen Tränengas hatte die Polizei bis dahin schon verbraucht. 670 Tonnen! Und in Besiktas, einem Stadtteil Istanbuls, mit Wasser gemischt, was zu schlimmsten Verbrennungen führt. Im Netz wird Erdogan nun als „Chemical Tayyip“ bezeichnet, keine schöne Bezeichnung für jemanden, der sich nach Mustafa Kemal Atatürk zum größten Führer der Türkei berufen fühlt und als Nachfolger von Präsident Abdullah Gül bis mindestens 2023 weiterregieren will, da wird die Republik 100 Jahre alt.

„Schreib mir lieber, ob es irgendwo einen Ausweg gibt?!“, antwortete ich. „Ich habe meinen Hochzeitsanzug dabei. Ich bin Bräutigam, kein Kriegsreporter!“

„Wenn du mich heiraten willst, musst du die Revolution mitmachen!“

Was für ein hinreißender Satz. Nicht, dass Heiraten das Ende des kritischen Geistes bedeuten würde, aber zumindest doch eine kleine persönliche Hinwendung zum eher, nun, Konservativen, dachte ich. Und kaum laufe ich mit dem Zeichen dieser Hinwendung über den Taksim-Platz, bricht hier die Revolution aus. Ich wollte gerade darüber nachdenken, ob es vielleicht auch ein Zeichen für mich ist, also: Liebe ist Freiheit, Liebe ist Unruhe, und Ehe, das ist Gesetz, das ist Verhärtung – da erwischte mich ein Wasserwerfer von halblinks. In Deutschland gibt es Hochwasser, hier gibt es Wasserwerfer.

Zehn Minuten später schrieb ich meine letzte Nachricht: „Habe mich mitten auf der Straße in der Türkei umgezogen. Trage jetzt meinen Hochzeitsanzug und warte auf die Atemschutzmasken.“ Danach wurde mein Facebook vom türkischen Kommunikationsministerium gesperrt.

An dieser Stelle wechseln sich ab: Elena Senft, Moritz Rinke, Esther Kogelboom und Jens Mühling.

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