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Erinnerungen an die Gegenwart: Unterhaltung mit Flüchtlingen

In Hans Blumenbergs „Schiffbruch als Zuschauer“ gibt es eine Passage über die Zuschauerposition gegenüber Ereignissen, Kriegen, Unglücken, gegenüber Geschichte.

Wie schwer es geworden ist, Zuschauer zu bleiben, beschreibt er durch den Besuch Goethes auf dem Schlachtfeld bei Jena im Mai 1807. Nachdem Goethe das Sterben betrachtet hatte, gab er dem Historiker Luden zu Protokoll: „Ich habe gar nicht zu klagen. Etwa wie ein Mann, der von einem festen Felsen hinab (…) den Schiffbrüchigen zwar keine Hilfe zu bringen vermag, aber auch von der Brandung nicht erreicht werden kann, und nach irgendeinem Alten soll das sogar ein behagliches Gefühl sein.“

Auf dem Theatertreffen gab es im Mai die Eröffnungspremiere „Die Schutzbefohlenen“ von Jelinek zu sehen, kurz nach den Flüchtlingstragödien vor Lampedusa. Auf der Bühne sitzen wirkliche Flüchtlinge, die meiste Zeit stumm, während ihr Flüchtlingschor von deutschen Schauspielern gesprochen wird. Der Chortext ist mit antiken Motiven recht dicht und mächtig, und so, wie die Flüchtlinge dasitzen, wirkt es, als schlage der große Text wie eine neuerliche Flut über ihnen zusammen.

Die Aufführung läuft auf einen dazu erfundenen Satz hinaus, einen Theaterspezialistensatz: „Wir können euch nicht helfen, wir müssen euch doch spielen.“

Nach der Aufführung steht das Publikum im Festspielhaus und reflektiert – wie alle Jahre – über Ästhetik, diesmal auch über Moral und den Sinn des Repräsentationstheaters. Als das Regieteam mit einer Urkunde ausgezeichnet wird, denke ich wieder an Goethe auf dem Felsen, der von der Brandung nicht erreicht werden kann und jenes behagliche Gefühl, das sich eine Festspielgesellschaft nur schwerlich nehmen lässt. Die Reflexion ging bald über in die Notwendigkeiten eines Büfetts, und manchmal sah ich noch einen Premierengast mit vollem Mund den Abend loben oder tadeln. Einer erklärte, man befinde sich nun in der Repolitisierung des Theaters, dabei spuckte er ein Stück Kartoffellauchgratin aus, das auf meinem Hemdkragen landete.

Kürzlich gab es eine andere Unterhaltungsveranstaltung mit Flüchtling. In der Talkshow „Günther Jauch“ diskutierten ein Münchener Journalist, eine geflüchtete Frau aus Syrien und ein Schweizer Chefredakteur, der trotz der Lampedusa-Bilder mit kalter, nie verlegener Sprache vor dem Ansturm von Asylanten warnte. Neben ihm saß ein ehemaliger Innenminister, der dem kalten Mann stets beipflichtete, sodass eine Art Kälteblock auf der linken Bildschirmseite meines Fernsehers entstand. Auf der rechten Seite war es warm, da saß der Münchener Journalist, der seit Jahren die Motive der Flüchtlinge so menschlich und so brillant beschrieben hatte. Doch plötzlich verschlug es dem Journalisten die Sprache, er verlor mehr und mehr seine Brillanz, was blieb, waren seine traurigen Augen.

Seltsamerweise musste ich während der Theatertreffen-Eröffnung immer an die linke, kalte Seite meines Fernsehschirms denken und nicht an die rechte, wo doch die Guten saßen. Woran lag das? An jener Behaglichkeit, die auch die linke Seite ausstrahlte, die von der Brandung nicht das Geringste wusste, aber den Auftritt sichtlich genoss? An der Eloquenz des großen Theatertextes? An den Gesprächen danach über Moral, Ästhetik plus Kartoffellauchgratin und Urkunde?

Ein Kritiker hatte noch gesagt, dass der Moment, in dem einmal nicht die Schauspieler, sondern die Flüchtlinge den Text zu sprechen versuchten, die beste immanente Jelinek-Kritik gewesen sei, die es je gegeben hätte. 6000 Kilometer durch die Wüste, ein Todeskampf auf hoher See dazu – für eine immanente Jelinek-Kritik!

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