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Selfie-Stange in Aktion.

© dpa

Selfie-Stick vor dem Aus: Die Tante am Drücker

Tante Isa macht jetzt auch Selfies.

Auf der Feier zum 73. zückte sie das Smartphone, streckte ein wenig unbeholfen den Arm aus, schob sich die Gleitsichtbrille den Nasenrücken rauf, rief noch: "Achtung jetzt." Dann Klick. Keine Ahnung, ob sie das Foto hinterher wem schickte oder bloß zu Hause auf der Festplatte speicherte, oder ob sie heimlich einen Twitter-Account betreibt. Jedenfalls gibt der Vorfall zu denken.

Ich behaupte nicht, dass die deutsche Gesellschaft dem Untergang geweiht ist, weil Tante Isa jetzt auch Selfies macht. Besorgniserregend finde ich es sehr wohl.

Normalerweise gilt: Entsteht irgendwo ein Trend, reagiert die Mehrheit skeptisch bis feindlich, manchmal entsetzt. Braucht kein Mensch, heißt es dann. Allerhöchstens Wichtigtuer, Proleten, Idioten. So war das vor fünf Jahren mit Smartphones, so war das vor 15 Jahren mit Handys und vor 20 mit Fitnessstudios. Die Front der Ablehnung bröckelt stets langsam. Nach und nach erkennen einzelne Verweigerer den Reiz des jeweils akuten Trends und wechseln das Lager - bis sich irgendwann die übrig gebliebenen Verweigerer in der Minderheit wiederfinden und fortan als kauzig gelten, weil sie eben noch immer kein Handy besitzen oder noch nie im Fitnessstudio waren. Soziologen erklären diese Entwicklung mithilfe der sogenannten Adoptionstheorie. Sie zeichnen Kurven in Koordinatensysteme und vergeben lustige Namen: Die Pioniere eines Trends heißen Early Adopters, der ganze Rest wird, je nach Trend-Resistenz, in die Untergruppen Majority oder Laggards (Bummler) eingeteilt.

Tante Isa war nie Early Adopter. Also vielleicht in den 1960ern, als die Kompaktkassette auf den Markt kam, das weiß ich nicht. Heute jedenfalls weigert sie sich, ihren Telefunken-Röhrenfernseher auszumisten, und manchmal bedauert sie, dass nachts nach Sendeschluss nicht mehr die schwarzen gegen die weißen Punkte kämpfen. Was also bedeutet es, wenn eine notorische Bummlerin die neue Kulturtechnik der Selfie-Fotografie so rasch und widerstandslos übernimmt? Es gäbe ja schließlich eine Menge einzuwenden gegen Selfies, nur mal so. In Spanien muss sich derzeit ein Mann vor Gericht verantworten, weil er als Teilnehmer der Stierhetze in Pamplona mitten im Sprint sein Smartphone hochriss. Verrückt! In Mailand schmiss ein Schüler beim Museumsbesuch eine wertvolle Statue um, er wollte doch bloß ein Selfie machen. Im Grunde sind die Ego-Fotos Symptome eines Narzissmus, der nicht einmal mehr versucht, unbemerkt zu bleiben. Dazu Ausdruck von Kontrollwahn, denn die Fotografierten drücken jetzt selbst auf den Auslöser und können unschmeichelhafte Bilder direkt löschen. Es wäre Aufgabe der Technik-Skeptiker und Bewahrer, all dies anzuprangern. Doch Tante Isa schweigt.

Sebastian Leber.
Sebastian Leber, Autor der Sonntags-Redaktion.

© Mike Wolff

Ich glaube, das kann nicht gut sein. Neuerungen brauchen Gegenwehr, sollen sich erst durchsetzen müssen, in Debatten und Streits. Das ist doch eine Art Generationenvertrag: Irgendwer muss halt den Spießer geben, der mit Moral und Fortschrittsangst nervt. Sollen die jungen Leute das jetzt etwa auch noch selbst übernehmen? Meine Tante ist schuld daran, dass sich die Early Adopters zu Abgrenzungszwecken bald einen neuen, im Zweifel noch beknackteren Trend suchen werden. Glaubt man den einschlägigen Tech-Blogs, wird dieser Trend "Dronies" heißen. Das sind Selfies, die Leute mithilfe einer Drohne machen. Vorteil eins: Man bekommt den gesamten eigenen Körper aufs Bild. Vorteil zwei: Tante Isa besitzt noch keine Drohne.

Weitere Kolumnen gibt es hier und hier und hier.

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