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Panorama: Tödliches Urteil

Das oberste Gericht in London gibt Ärzten das Recht, ein Baby sterben zu lassen – gegen den Elternwillen

Ärzte im St.Mary-Krankenhaus in Portsmouth dürfen das elf Monate alte Baby Charlotte Wyatt sterben lassen. In einem der emotionalsten und umstrittensten Prozesse zur Ethik der modernen Medizin in Großbritannien stand der Fachverstand der Ärzte gegen den Willen liebender Eltern. Der Londoner High Court entschied „im Interesse des Babys“ – für die Ärzte. Diese hatten sich geweigert, an dem schwerkranken Kind weitere Wiederbelebungsversuche vornehmen, weil diese „sinnlos und grausam“ wären.

Richter Sir Mark Hedley befand, dass der kleinen Charlotte nur noch drei Dinge nützen können: Dass sie so wenig Schmerzen wie möglich hat. Dass sie noch so viel Zeit und Kontakt mit ihren Eltern wie möglich haben kann. Und dass sie, wenn das Ende kommt, in den Armen ihrer Eltern sterben darf.

Die Ärzte haben Charlotte bereits dreimal wiederbelebt und künstlich beatmet. Doch nun wird sie sterben, wenn ihr Herz wieder zu schlagen aufhört. Ob sie ihren ersten Geburtstag am 21. Oktober erlebt, ist ungewiss.

Darren und Debby Wyatt wollen sich dem Urteil fügen. „Wenigstens wissen wir nun, dass wir für sie getan haben, was in unserer Macht stand. Sie ist unsere Tochter. Wir konnten sie nicht einfach sterben lassen, solange noch die geringste Hoffnung bestand“, sagten die Eltern der „Daily Mail“.

Dass Charlotte überhaupt so lange lebt, ist eines der medizinischen Wunder, die die ethische Beurteilungsfähigkeit der Gesellschaft immer wieder überfordern. Das Baby kam drei Monate zu früh auf die Welt, wog nur 450 Gramm und verließ noch nie das Krankenhaus. Erst nach drei Monaten konnten die Eltern ihre Tochter zum ersten Mal halten, nach fünf Monaten zum ersten Mal baden. Die meiste Zeit liegt das Mädchen im Brutkasten. Es ist blind, hat einen Hirnschaden, die Lungen sind durch die künstliche Beatmung vernarbt, Herz und Nieren funktionsgestört und es kann nur künstlich ernährt werden. Eine Überlebenschance hat das schwerbehinderte Kind nach Ansicht der Fachärzte nicht. „Sie lebt unter permanenter Betäubung, in einer Plastikkiste mit einem Plastikschlauch in der Nase und wird beatmet. Die Wyatts aber bezeichneten ihre Tochter als „Kämpferin“. Als Christen hofften sie auf ein Wunder und sprachen von ihrer Pflicht, das Leben ihrer Tochter zu erhalten. Charlotte sei „noch nicht bereit zu sterben“, argumentierten sie. Richter Hedley nahm ihnen das Recht, für das Kind zu entscheiden, praktisch aus der Hand. Charlottes Menschenwürde müsse respektiert werden, sie selbst aber könne diese nicht verteidigen und habe keine Wahlfreiheit, so Hedley. Nach der europäischen Menschenrechtskonvention haben Eltern das Recht, über die Behandlung ihrer Kinder zu entscheiden. Das Krankenhaus war vor Gericht gezogen, um dieses Recht der Eltern einzuschränken.

„Diese Situation ist sehr hart für Eltern“, erklärte Professorin Margaret Brazier von der Uni Manchester die Situation mit Frühgeborenen. „Wie oft sagt man den Eltern, dass die Kinder nicht durchkommen werden, und dann leben sie doch noch ein bisschen weiter“. Meinungsverschiedenheiten in Krankenhäusern seien keine Seltenheit, sagte die Juristin, die eine Ethikkommission über Frühgeborene leitet und sich von dem Prozess Entscheidungshilfe für Eltern und Ärzte in ähnlichen Fällen erhofft. Auch der Leiter der Frühgeborenenhilfe „Bliss“, Rob Williams, beschrieb die Tragödie von Eltern, die sich immer fragen müssten, ob sie ihr Baby nicht „zu früh“ aufgegeben haben.

Auch vor Gericht wurden solche Fälle in der Vergangenheit verhandelt. Aber es war das erste Mal, dass ein solcher Prozess öffentlich geführt wurde – und die Berichte haben Großbritannien aufgewühlt. „Dieser Fall berührt fundamentale Grundsätze der Menschlichkeit. Man findet diese nicht in Gesetzen und oder Gerichtsurteilen, sondern in den tiefsten Gründen der menschlichen Seele“, erklärte Hedley in seiner Urteilsbegründung. Die Briten glauben, dass das Urteil und die sehr öffentliche Weise, in der es zu Stande kam, einen Präzedenzfall schuf. Nur ob zum Guten oder Schlechten, darüber wird gestritten. „Eine weise Entscheidung“, glaubte der „Independent“, während die „Times“ schrieb, man dürfe Eltern die Entscheidung nie aus der Hand nehmen. „Im Zweifel, immer für das Leben entscheiden“, schrieb der „Daily Telegraph“.

Die Behandlung von Frühgeborenen kommt in Großbritannien zunehmend in die Diskussion.

Niederländische Ärzte beschlossen vor zwei Jahren, Frühgeborene mit weniger als 25 Wochen nicht wiederzubeleben. „Wir wollen in dieser Frage keine Regeln“, sagte Robert Williams. „Jeder Fall ist anders.“

Matthias Thibaut

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