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USA: Wildwest in New Orleans

Das Wasser kam, die Zivilisation ging: In der überfluteten US-Metropole New Orleans greifen Chaos und Anarchie um sich. Immer mehr Bürger bewaffnen sich - die Stadt wird zur Kriegszone.

Washington/New Orleans (01.09.2005, 21:02 Uhr) - Gepanzerte Fahrzeuge mit schwer bewaffneten Polizisten rollen durch die Straßen und auch immer mehr Militärjeeps mit Nationalgardisten. In der Ferne knallen Schüsse. Ladentüren sind eingetreten, hängen schief in ihren Angeln, Fensterscheiben sind eingeschlagen, dahinter herrscht gähnende Leere auf den Regalen. Ein Bürgersteig ist übersät mit Nudeltüten, Kekspackungen und Babynahrung - Lebensmittel, die an anderer Stelle mit so immenser Dankbarkeit empfangen würden. Plünderer haben sie verloren, ihre Arme konnten nicht alles halten, was sie da zusammengerafft haben.

Im Children's Hospital der Stadt, der Kinderklinik, hat das Personal die Türen verriegelt: Ein Mob von Menschen lungert draußen, wartet auf eine Gelegenheit, sich auch hier zum Nulltarif zu bedienen. Weil die Polizei dem Chaos so lange hilflos zugeschaut hat - die Rettung von Menschenleben in den Flutgebieten hatte schließlich Vorrang - haben sich zunehmend viele Bürger inzwischen selbst bewaffnet. Mit Schrotflinten und Pistolen stehen sie vor ihren Häusern, ein Ladenbesitzer hat sogar zwei Revolver an jeder Hüftseite baumeln. Andere zeigen ihre Waffen nicht, aber sie drohen. «Plünderer werden auf der Stelle erschossen» hat der Eigentümer eines Gemüsegeschäfts mit blutroter Farbe auf das Brett gepinselt, mit dem sein Ladenschaufenster vernagelt ist.

Es sieht aus wie eine Kriegszone in New Orleans, oder auch so, wie man es manchmal in Wildwestfilmen sieht. Gleich in doppelter Hinsicht sind hier die Dämme gebrochen, das Wasser kam, die Zivilisation ging verloren. Ganze Heere von Plünderern haben New Orleans in das verwandelt, was eine Zeitung am Donnerstag als «Stadt der Gesetzlosen» bezeichnet - und das ist ausgerechnet New Orleans, jene Metropole, die bisher durch ihren entspannten Lebensstil, durch liebenswerten Charme die Welt so bezaubert hat. So weiß denn auch Bürgermeister Ray Nagin, dass doppelte Aufbauarbeiten bevorstehen: Repariert werden muss neben den Häusern auch das Image der Stadt.

Kein Wunder, dass die sonst so besonnen wirkende Gouverneurin von Louisiana, Kathleen Blanco, Zorn durchblitzen lässt. «Ich bin wütend», sagt sie. «Was mich am meisten schäumen lässt, ist, dass Katastrophen doch eigentlich das Gute im Menschen herausbringen, und das ist, was wir auch jetzt erwartet haben. Stattdessen ist es das Schlechteste.»

Und schlecht ist es: Ein Plünderer fuhr sogar mit einem Gabelstapler vier Straßenblöcke weit, um mit dem Gefährt eine Ladentür zu durchbrechen. Ganze Fuhren an Waren werden in Einkaufswagen davongekarrt, und auch Carjackings hat es gegeben: So wurde ein Kleinbus zum Transport von Senioren aus einem Altenheim von Plünderern gestoppt und mit gestohlenen Gütern voll gestopft.

Die Lage spitzt sich zu

Und die Gefahr, dass Blut fließt, wird immer größer: Weil auch Waffengeschäfte leergeräumt wurden, tragen zahlreiche Plünderer eine Handfeuerwaffe mit sich - oder auch Macheten und Messer. Bewaffnete Ladenbesitzer ihrerseits geben Warnschüsse ab, wenn sich Plünderer nähern: eine Situation, die immer mehr zu eskalieren droht. «Ich habe mit meiner Magnum ein paar Schüsse über ihre Köpfe hinweg abgegeben,» zitiert die «New York Times» einen Einwohner, auf dessen Generator es vier junge Männer abgesehen hatten: «Was meint ihr, wie schnell die verschwunden sind.»

«Ich war in Bagdad», sagt ein CNN-Reporter. «Da ist man es gewohnt, Schüsse zu hören. Aber hier?» Benigno E. Aguirre vom Katastrophen-Forschungszentrum in Delaware versucht eine Antwort darauf zu geben - das Studium des Phänomens Plünderung nach Katastrophen ist seine Spezialität. Aber eine einfache Antwort, so sagt er, gibt es nicht. Es gebe verschiedene Arten von Plünderern und auch verschiedene Beweggründe, zitiert ihn die «Washington Post».

Im Fall von New Orleans handele ein großer Teil schlicht aus Verzweiflung und Panik, weil es «einfach nichts an Nahrung zu kaufen gibt». Dann gebe es jene Gruppe von Kriminellen, die das Chaos dazu nutzten, sich zu bereichern - das seien die wirklichen Diebe. Zu bedenken gibt Aguirre aber auch, dass sich in den Plünderungen eine Art Klassenkampf widerspiegeln könne: «Benachteiligte Menschen wollen sich an denen rächen, die mehr haben als sie selbst.» (Von Gabriele Chwallek, dpa)

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