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Panorama: Verklärung der Gefangenschaft aus Selbstschutz

Der Kampf des Opfers gegen die Opferrolle – was Experten über die jetzt verlesenen Worte der 18-Jährigen sagen Es könnte zu einer echten Krise kommen, wenn sie merkt, was wirklich war

Wenige Tage nach ihrer Flucht aus achtjähriger Gefangenschaft zeigt sich Natascha Kampusch als selbstbestimmte junge Frau mit starker Persönlichkeit, die weiß, was sie will, und die nicht bereit ist, die Fäden ihres Lebens noch einmal aus der Hand zu geben. Der schriftliche Appell an die Öffentlichkeit, den sie am Montag verlesen ließ, enthält Worte, die auf den Beobachter schockierend wirken. Vor allem angesichts des großen Leids, das sie ohne Zweifel erlitten hat, auch wenn sie das mit vielen Formulierungen zu relativieren scheint.

Was steckt hinter ihren Formulierungen? Zunächst einmal die Bitte an die Medien, sie in Ruhe zu lassen.

Zum anderen die Bitte an die Öffentlichkeit, sie nicht in eine hilflose Opferrolle zu drängen. Welchen Hintergrund hat diese Bitte? Hat sie tatsächlich schon ihre Opferrolle abgelegt? Oder haben ihr die Therapeuten dies eingeredet, damit sie leichter ein neues Leben beginnen kann? Oder ist ihre Weigerung, sich als Opfer zu sehen, Ausdruck dafür, dass sie noch immer von der Gefangenschaft gebannt ist?

„Ich habe mir so manches erspart, nicht mit Rauchen und Trinken zu beginnen und keine schlechten Freunde gehabt zu haben.“ Für Psychiatrieprofessorin Isabella Heuser von der Berliner Charité bieten solche Äußerungen ein „klassisches Beispiel für Gehirnwäsche“. Möglicherweise handelte es sich bei dem Entführer um einen sehr geschickten Manipulator, der es schaffte, dass das Mädchen, das als Kind zu ihm kam, sich immer mehr mit seinen Zielen identifizierte. Durch die Mischung aus Freundlichkeit und Brutalität, von der Natascha Kampusch andeutend spricht, sei das wahrscheinlich unterstützt worden.

Die Bindung, die Opfer von Entführungen notgedrungen zu den Tätern aufbauen, ist in der psychologischen Fachsprache als „Stockholm-Syndrom“ bekannt geworden. Dass diese Bindung sich im Wiener Entführungs-Fall möglicherweise besonders stark entwickelte, hat aller Wahrscheinlichkeit nach damit zu tun, dass die Frau entscheidende persönliche Entwicklungsphasen im Zusammenleben mit dem Entführer durchlief, der auch eine Art Erzieherrolle gehabt haben muss. „Man muss sich vorstellen, dass sie in diesen Jahren in die Pubertät kam und vom Kind zur Frau wurde“, sagt Heuser. Ihr Hamburger Kollege Michael Schulte-Markwort, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, hält es für denkbar, dass sie sich dem Entführer ebenbürtig fühlte, weil er sich ihr gegenüber abhängig zeigte. Der Psychologe und Psychotherapeut Georg Pieper, Experte für Trauma- und Stressbewältigung, weist darauf hin, dass es kaum vergleichbare Fälle gibt. Das Ungewöhnliche am Fall Kampusch sei, dass die traumatische Situation hier nicht nur kurz anhielt, sondern für das Mädchen zum Dauerzustand wurde. In dem musste es sich notgedrungen einrichten. Auch davon berichtet sie in ihrer Erklärung: „Ich wuchs heran zu einer jungen Dame mit Interesse an Bildung und auch an menschlichen Bedürfnissen.“

„Es ist extrem schwer, sich einzugestehen, dass man einer ganzen Reihe von Lebensjahren beraubt wurde“, sagt Heuser. Psychotherapeuten kennen das Bedürfnis von Menschen, die über Jahre ihrer Freiheit beraubt wurden, sich nicht als Produkt oder Opfer eines anderen zu fühlen, sondern ihre Identität zu bewahren – notfalls durch sogenannte Rationalisierungen, also nachträgliche Begründungen und Rechtfertigungen. Schulte-Markwort spricht von einer „Verklärung der Gefangenschaft aus Selbstschutz“. Erschwerend kommt im Fall Kampusch die Selbsttötung des Entführers hinzu. „Dadurch gibt es nur die psychologische Realität des Mädchens“, sagt Pieper. Noch dazu kann die junge Frau sich eines Gefühls der Trauer über den Tod der prägenden Bezugsperson nicht erwehren: „Er war Teil meines Lebens. Deshalb trauere ich in einer gewissen Weise um ihn.“ Schulte-Markwort hält es für möglich, dass die Frau von Schuldgefühlen eingeholt worden sei, weil sie glaube, seinen Tod verursacht zu haben „und weil sie es bei ihm ihrem Empfinden nach nicht schlecht hatte“. Andererseits zeigt ihr Weglaufen deutlich, dass sie sich bei ihrem Entführer keinesfalls wohl oder gar frei fühlte. Dass ihr die Flucht gelang, hat sie aber wahrscheinlich in der Einschätzung bestärkt, „gleich stark“ wie der Täter zu sein. Es könne „ zu einer echten Krise kommen, wenn sie bemerkt, wie stark sie manipuliert wurde“, sagt Heuser. Die Erklärung, die Natascha verfasste, hält Heuser für einen Ausdruck der Störung, unter der sie aufgrund der schlimmen Erfahrungen leidet. Deshalb findet es die Psychiaterin auch nicht unproblematisch, einen solchen Text vor der Presse vorzulesen. Das Wichtigste, so sagt Schulte-Markwort, sei es jetzt, „die Frau in Ruhe zu lassen“.

Adelheid Müller-Lissner

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