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071121schwerin

© dpa

Vernachlässigung: "Familie machte ganz normalen Eindruck"

Das Mädchen war völlig ausgehungert, als es in die Klinik eingeliefert wurde. Die Ärzte konnten ihm nicht mehr helfen. Die Eltern wurden inzwischen festgenommen. In schwerer Kritik steht nun das Jugendamt - es wusste von dem Fall.

Der 26 Jahre alte Vater und die 23 Jahre alte Mutter des Kindes sollen heute dem Haftrichter vorgeführt werden, wie ein Sprecher der Staatsanwaltschaft in Schwerin mitteilte. Wegen des Kindstodes wird gegen die beiden "wegen Tötung durch Unterlassen" ermittelt.

Das zweite Kind der Familie, ein knapp zwei Monate alter Junge, wurde in einer Pflegefamilie untergebracht. Schwerins Sozialdezernent Hermann Junghans räumte ein, dass dem Jugendamt Hinweise auf eine mögliche Vernachlässigung des Kindes vorlagen. Er wies aber Vorwürfe zurück, die Mitarbeiter hätten nach dem Besuch der Familie unzureichend reagiert: "Es gibt keinen Anlass, der dafür spricht, dass die Mitarbeiter in diesem Fall anders gehandelt haben als in diesen Verfahren vorgegeben."

Nach Angaben der Staatsanwaltschaft hatte der Vater am Dienstagabend den Notarzt gerufen. Daraufhin sei das Mädchen in die Klinik gebracht worden, wo es wenig später starb. Die genaue Todesursache ist noch unklar. "Ich war sehr erschrocken, dass es so etwas geben kann", sagte ein Klinik-Sprecher über den Zustand des Kindes. Nach Angaben des Innenministeriums wies das Mädchen "erhebliche Unterernährung, starken Flüssigkeitsverlust und Rötungen im vorderen Halsbereich" auf. Morgen soll die Leiche obduziert werden. Die Mutter hat noch einen wenige Monate alten Säugling.

"Das Mädchen war brav und wohlerzogen"

Die Familie wohnt in einem sanierten Plattenbau. In dem Haus gab es nach Angaben des Vermieters immer wieder Streit. Grund dafür waren die Hundehaltung der Familie und eine mangelnde Hausreinigung. Bei zwei Gesprächen mit der Familie über diese Probleme war das Mädchen dabei, sagte der Vorstandsvorsitzende der Schweriner Wohnungsbaugesellschaft, Wilfried Wollmann. "Das Mädchen war brav und wohlerzogen." Es habe keinerlei Hinweise darauf gegeben, dass etwas nicht in Ordnung gewesen sein könnte.

Bei einem Besuch der Familie fanden zwei Mitarbeiter der Wohnungsbaugesellschaft die Wohnung sauber und ordentlich vor. Weder die Eltern noch das Mädchen machten einen verwahrlosten Eindruck. "Das Mädchen war ein schmächtiges Kind, aber die Familie machte einen ganz normalen Eindruck", sagte eine Mitarbeiterin, die die Familie kannte. Vor etwa zwei Wochen wandte sich dann das Jugendamt an den Vermieter, um einem anonymen Hinweis auf Vernachlässigung aus dem Haus nachzugehen.

"Ich habe gar nicht gewusst, dass dieses Kind dort lebt", berichtet eine Rentnerin, die mit ihrem Mann vor gut zwei Jahren in der zweiten Etage eingezogen war. Einmal, so erinnert sie sich, habe sie ein Kind auf der Treppe weinen hören, das wohl zu schwach war, allein weiterzugehen. Durch den Spion in der Tür habe sie gesehen, wie der Mann von oben herunterkam und das Kind griff. Da es nie wieder auftauchte, habe sie angenommen, es werde vielleicht von den Großeltern aufgezogen.

Fehlende soziale Kontrolle

Mecklenburg-Vorpommerns Sozialminister Erwin Sellering (SPD) zeigte sich schockiert vom Tod des kleinen Mädchens. "Es ist für mich unbegreiflich, dass es Eltern gibt, die ihre Kinder offensichtlich verhungern und verdursten lassen", erklärte er. Gerade in den Stadtteilen, wo das Miteinander und die Nachbarschaft eigentlich funktionieren sollten, erlebe die Gesellschaft häufig eine fehlende soziale Kontrolle. Hinzu kämen Scham und falsch verstandene Rücksicht, bei Krisensituationen in der unmittelbaren Nachbarschaft die Polizei zu rufen. Er werde in Kürze im Kabinett ein Gesetz zur Förderung des Kindeswohls vorlegen. "Damit wollen wir erreichen, dass zukünftig alle Kinder an den wichtigen regelmäßigen ärztlichen Früherkennungsuntersuchungen teilnehmen", erläuterte er. (mit dpa/AFP)

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