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Panorama: Völlig überfordert

Eine Frau aus dem thüringischen Sömmerda hat ihre Wohnung verlassen – ihr Baby ist verdurstet

Hinter dieser Tür also. Hinter der braungemaserten Tür in dem Plattenbau lag das tote Baby. Drei Tage, vielleicht auch vier oder fünf. Verdurstet, nachdem die 20-jährige Conny N. ihren zehn Monate alten Sohn allein gelassen hat. Seit Sonntag sei sie nicht mehr in der Wohnung gewesen, hat sie den Polizisten erzählt, die sie festnahmen. Seitdem sind der Bremer Kevin und die anderen Fälle vernachlässigter Kinder für die thüringische Kreisstadt Sömmerda nicht mehr nur ferne Nachrichten.

Donnerstag Nachmittag haben das Jugendamt und Polizeibeamte diese braungemaserte Tür aufgebrochen und die Leiche von Leon Sebastian gefunden. Seine zweijährige Schwester Lena Isabell gab keinen Laut von sich. Erst als ihre Retter das Zimmer betraten, in dem sie in einem Laufgitter auf die Mutter wartete, machte sie sich bemerkbar. Das Mädchen war dehydriert, ist inzwischen aber wieder in einem guten Zustand.

„Ich habe ganz schreckliche Gefühle“, sagt Nachbarin Kerstin Pieper. „Für die Mutter darf es kein Erbarmen geben.“ Die 43-Jährige hat mit Tränen in den Augen eine Kerze vor den Hauseingang in der Lucas-Cranach-Straße gestellt. Es ist nicht die erste. Die Kerzen brennen neben Kuscheltieren, schwülstigen Engeln und roten Rosen. So tief dunkelrote Rosen, wie sie oben im vierten Stock auf einem Plakat an der Wand hängen. Ein Schuhschrank steht darunter. Ein bisschen Erde wurde verstreut, wohl als man den Kindersarg aus der Wohnung trug.

„Die Mutter hat eingeräumt, sich schlecht und sporadisch um die Kinder gekümmert zu haben“, sagt der Erfurter Kriminaldirektor Herbert Bauer. Seit Sonntag habe sie sich in den Straßen von Sömmerda herumgetrieben. Übernachtet hat sie bei einer Freundin. Sie soll einen verstörten Eindruck gemacht haben, als sie von der Polizei festgenommen wurde. Ihre Wohnung war nicht verwahrlost, sagt Erfurts Polizeidirektor Rainer Grube. „Aber es gab einen Uringeruch und andere Gerüche und einen überdurchschnittlich hohen Anfall von Fliegen.“

Warum sich die arbeitslose Frau plötzlich so gehen ließ, können Polizei und Staatsanwaltschaft noch nicht sagen. Fragt man die Nachbarn, dann fing alles mit einem neuen Freund an. Ihren Ehemann – der Kindesvater, ein 25-jähriger Arbeitsloser – soll sie aus der Wohnung geworfen haben. Vor einigen Monaten kam dann der Neue. „Sie war tagelang nicht da“, hat Nachbarin Pieper beobachtet, mit der sich Conny N. bis zur Geburt ihres Sohnes den Hauseingang geteilt hat. Die Kinder waren dann angeblich immer beim Vater. „Ich habe gesagt, komm’ doch rüber wegen der Wäsche und dem Kochen, weil ihr doch der Strom abgestellt war. Aber sie hat nicht mal mehr für die Behörden die Tür aufgemacht.“

Es ist keine wohlhabende Gegend, die Plattenbausiedlung am Sömmerdaer Stadtrand. Doch sie ist keineswegs heruntergekommen. Hier wohnen keine begüterten, aber ganz normale Menschen. Viele Russlanddeutsche, auffällig viele junge Leute und deshalb auch eine Menge Kinder. „Ja, ich empfinde Wut, so etwas sogar wie Hass auf die Mutter“, sagt Mathias Thormeyer, Kraftfahrer und selbst Vater von zwei kleinen Kindern. Er wohnt ein paar Eingänge weiter. Er hat Conny N. zwar nicht häufig, aber doch oft genug gesehen, um sie zu beschreiben. Eine kleine, kräftige Frau, schwarzhaarig, hübsch. „Und braungebrannt“, fügt er hinzu. In den letzten Wochen hat sie sich aufgebrezelt, wenn sie etwa zu ihrer Freundin ins Auto stieg, um zu Partys oder Diskotheken zu entschwinden, sagt Nachbarin Pieper. Und die Kinder? „Die hat sie allein gelassen.“ Mitte November wurde es einer anderen Nachbarin unheimlich. Sie mochte nicht mehr länger ingnorieren, was hinter der braungemaserten Tür den Blicken entzogen war. Sie informierte das Jugendamt. Den ersten Kontakt mit Mutter und Kindern habe es am 15. November gegeben, sagt Staatsanwältin Anette Schmitt. Dabei seien die Kinder nicht in einem auffälligen Zustand gewesen. Entgegen allerersten Informationen, die am Freitag kursierten, waren die Kinder auch keineswegs unterernährt. Offenbar bestand keine unmittelbare Gefahr für die Kinder, die ein sofortiges Mitnehmen erforderlich gemacht hätte. Es scheint so gewesen zu sein, dass die Mutter ganz plötzlich ihre Wohnung verließ, die Kinder zurückließ und einfach nicht mehr zurückkam. Auf Anweisung des Sömmerdaer Landrats Rüdiger Dohndorf durfte die Leiterin des Jugendamtes am Freitag keine Auskünfte geben. So steht die Behauptung der Mutter im Raum, sie habe sich vom Jugendamt „unter Druck gesetzt“ gefühlt. Weil sie von der Situation überfordert gewesen sei, habe sie ihre Wohnung gemieden. Das Jugendamt hatte Ende November einen Antrag gestellt, der Mutter das „Aufenthaltsbestimmungsrecht“ für ihre Kinder zu entziehen. Laut Staatsanwaltschaft kam es Freitag vor einer Woche zu einem Anhörungstermin vor dem Amtsgericht. Am Montag darauf wollte der Richter noch einmal Vater und Mutter sehen, die beide nicht erschienen. Am Donnerstag schließlich übertrug er per Beschluss das Sorgerecht an das Jugendamt. Das ließ am Nachmittag, als niemand öffnete, die Wohnungstür aufbrechen.

Da war es zu spät.

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