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Panorama: Die Angst vor dem Jetzt

Die Schule ist vorbei, die Party zu Ende. Plötzlich soll man erwachsen sein – und die Panik vor dem wahren Leben beginnt

Diese laue Sommernacht hinterließ einen nicht zu verleugnenden Kater. Wir feierten so, als würde es kein Morgen geben. Das Abitur in der Tasche, die Zukunft vor uns. Alles wirkte so leicht, so grenzenlos, so simpel und so groß! Wir lebten in diesem einmaligen Moment und dachten keine Sekunde an das, was danach komme würde. Für uns war es nur wichtig, fertig mit der Schule zu sein, das erste große Ziel erreicht zu haben. Und das hieß: Abitur. Was danach kommen würde, wussten viele erst einmal nicht. Wie auch? Wir hatten eigentlich nur darauf hingelebt und waren zufrieden, als wir es endlich geschafft hatten. Mehr gab es für uns erst einmal nicht. Das ist drei Jahre her.

Vor ein paar Tagen traf ich einen Freund aus der Schulzeit – seit langem. Bastian erzählte mir, dass er immer noch nicht weiß, was er eigentlich im Leben wolle. Wir saßen da, am Kreuzberger Landwehrkanal, tranken ein Bier und wirkten plötzlich so viel unentspannter als vor drei Jahren, als wir unser Abizeugnis frisch in der Hand hielten.

Bastian machte ein sehr gutes Abitur, und ich hätte erwartet, dass er nach den Monaten des Feierns und Verreisens recht schnell das findet, worauf er Lust hat. Doch bei unserem Treffen sitzt ein viel traurigerer Bastian vor mir. „Ich habe keine Ahnung, was ich eigentlich mit meinem Leben anfangen soll“, erzählt er und steckt sich dabei eine Zigarette an. Er hat ein Politikstudium angefangen, das recht schnell abgebrochen, weil es dann doch etwas anders als der Politikunterricht in der Schule ablief, und machte dann einige Praktika im Medienbereich. „Zur Orientierung“, wie er sagt. Doch auch daraus wurde nicht viel. Er wollte schon längst ausgezogen sein, lebt aber immer noch bei seinen Eltern, da er sich ohne Unterstützung keine Wohnung leisten kann Er geht viel feiern, versucht sich zu verlieben und sucht nach dem, was er vom Leben will. Doch eine Ahnung hat er im Moment nicht.

Drei Jahre zurück. Uns umgaben leere Bierflaschen, zähes Grillfleisch, hinter uns lagen lange Nächte in Berliner Clubs, und wir lebten eine unglaubliche Leichtigkeit. Doch etwas veränderte sich über diesen Sommer: Aus der Euphorie und Lust auf das Leben wurde sehr schnell Angst. Man kann sie „Angst vor dem Jetzt“ nennen, denn im Jetzt entscheidet sich die Zukunft. Eines morgens wachte ich auf und fragte mich zum ersten Mal ernsthaft, was ich jetzt eigentlich vorhabe. Ich lag im Bett und fand keine Antwort. Ich wusste nur, was ich nicht machen wollte: keine Ausbildung, kein Studium. Immer öfter wurde mir sofort schlecht, wenn ich nur versuchte, über meine Pläne nachzudenken. Das führte dazu, dass ich mich damit einfach gar nicht mehr beschäftigte. Doch es konnte so nicht weitergehen. Das war mir klar. Mein Vater saß mir mit Predigten im Nacken, und mein Gewissen – ach mein Gewissen – klagte mich so oder so schon jeden Tag an. Also musste ich mich meinem Erwachsenenleben stellen

Ich suchte mir ein Praktikum, versuchte, Geld zu verdienen, und bewarb mich an der Uni. Einen Studienplatz bekam ich nicht, der NC für das Publizistikstudium war zu hoch, und ich war eigentlich ganz froh darüber, denn auf das Studium hatte ich keine Lust. Ich wollte aber etwas gemacht haben. Zur eigenen Beruhigung.

Bastian erzählte mir am Landwehrkanal, dass er bei jeder Entscheidung das Gefühl habe, sie sei endgültig. Ich fragte ihn, was er jetzt – drei Jahre nach dem Abitur – vorhabe? „Ich habe mittlerweile einen Tunnelblick und sehe kaum noch Möglichkeiten für mich. Jeden Tag habe ich das Gefühl, dass ich alles verpasst habe. Ich hätte mehr lernen, reisen und erleben können.“ Er kenne die Angst vor dem Jetzt gut. „Das ist wie eine Lähmung. Ich weiß eigentlich, dass ich erwachsen werden sollte, doch im Moment klappt das nicht.“ Vor lauter Chancen entscheidet er sich für nichts, spielt lieber stundenlang am PC und wirkt dabei fast ohnmächtig. Aber die Zeit läuft, denn langsam machen aus seine Eltern zu Hause Druck.

Bastian vertritt ein Extrem. Boris ein anderes. Im Kreuzberger Club 103 traf ich ihn, wir kennen uns von früher. Schnell einigten wir uns auf einen „Kurzen“. Wodka pur. Er machte ein mittelmäßiges Abitur und kommt aus einem bürgerlichen Elternhaus. Der Vater hat eine große Baufirma. Boris hatte sich nie für die Arbeit seines Vaters interessiert, spielte lieber Fußball mit seinen Jungs und endete am Wochenende regelmäßig unterm Tisch bei irgendwelchen Gartenpartys in Lichterfelde. An der Bar, umschallt von bassiger Musik, erzählt er, dass er bei seinem Vater eine Ausbildung mache. Aber nicht weil es ihn interessiert. Er will auf Nummer sicher gehen. Keine Experimente, keine Trips ins Ungewisse. Mit trübem Blick Richtung Glas sagt er nach einem kräftigen Schluck: „Ich werde dann in zehn Jahren einfach die Firma übernehmen.“ „Und bist du glücklich?“ Seine Antwort: „Nein.“ Boris hat sich aus Angst für einen vorgezeichneten Weg entschieden. Der Deal mit seinem Vater steht. Ein Zurück ist erst einmal nicht möglich, obwohl er schon jetzt die frühe Festlegung bereut. „Mein Vater wäre aber sehr, sehr wütend“, erklärt er.

Totale Verweigerung oder schnelle Festlegung – beides aus Angst. Ich verstehe die beiden, denn mir geht es immer noch ähnlich.Die perfekte Lösung gibt es wohl nicht. Aber ich denke: Wir sollten uns bloß nicht verrückt machen lassen. Wenn die Leichtigkeit verloren geht, müssen wir sie eben zurückgewinnen. Oder man hält es mit Tocotronic. Die geben auf ihrem neuen Album allerdings einen ganz anderen Rat:

„Wenn du denkst: Fuck it all / Wie soll es weitergehen? / Kapitulation – ohohoh.“

Ric Graf

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