zum Hauptinhalt

Panorama: Ferienlager in Gottes Namen

Essen: katastrophal. Betten: mies.Alkohol:konfisziert Warum reisen 100 000 Jugendliche dann nach Taizé?

Am Bahnhof von Macon in Südburgund gibt es fast gar nichts. Zwei Gleise, zwei verlassene Schalter, zwei brummende Getränke-Automaten, zwei Jack-Russel- Terrier und ihre Besitzerin, die Frau vom Bistro, die Pfefferminzsirup trinkt und sich freut, wenn man sie fragt, wann der Bus nach Taizé kommt.

Der Bus ist voll. Junge Leute aus der ganzen Welt, die aussehen, als würden sie auf ein Musikfestival fahren. Aus dem hinteren Teil schallt Nena mit „99 Luftballons“, vorne singen Spanier, einer spielt Gitarre, alle jubeln, als die Fahrerin die Tür öffnet und etwas Fahrtwind hereinlässt. In ein Kloster fahren die bestimmt nicht, denkt man, während Berge und Kuhweiden vorbeiziehen.

Irgendwann: die Haltestelle. Die Bruderschaft Taizé, das Ziel unserer Reise.

Das Kloster sieht nicht aus wie ein Kloster. Keine kalten Steingänge, keine sakralen Gesänge. Gestalten in schwarzen Kutten sucht man vergeblich.

Es ist ein großes Gelände mit Zeltplatz, Kirche, Schlafräumen, einem Stück Wald. Auf einer Wiese liegt eine Gruppe Jugendlicher in der Sonne, drei junge Frauen in traditionellen indischen Kleidern bringen zwei ungelenken deutschen Mädchen einen Tanz bei, ein Junge bespritzt eine kreischende Mädchengruppe mit Wasser. Es sieht aus wie ein riesiges Feriencamp, aufgebaut von Frère Roger, jenem Mönch, der vor ziemlich genau einem Jahr starb – nach den Messerstichen einer geistig verwirrten Frau.

Taizé ist berühmt. Verteilt über das Jahr kommen mehr als 100 000 Jugendliche aus über 60 Nationen nach Taizé. Aus den USA, aus Sambia, aus Russland. In den Sommerwochen sind es etwa 4000 Jugendliche – pro Woche. Dabei klingt der Alltag in Taizé nicht gerade nach dem, was man sich in der Freizeit erträumt: Dreimal am Tag zur Messe, religiöse Musik, Schweigen. Gesprächsrunden über Gott, Glauben, Probleme. Küchendienst, Alkoholverbot, kahle Zimmer mit Stockbetten, katastrophales Essen.

Torben und Jacek sind 16 und 19 Jahre alt und stellen sich draußen in eine lange Schlange zur Essensausgabe. Es ist Mittag. Zum Frühstück gab es ein Brötchen und etwas Butter. Dazu Zitronentee oder eine Schale Kakao. Messer und Gabeln gibt es nicht, nur Löffel. Tische gibt es auch nicht, alles ist beschränkt auf das Nötigste. Taizé ist ja kein Partycamp in Frankreich, sondern immer noch ein Kloster. Brot kann man ja auch vom Schoß essen, und Nudeln hebt man eben mit dem Löffel.

Torben und Jacek haben sich hier kennengelernt, beim Küchendienst. Zwei blonde Jungen in weiten Dreiviertel- Jeans, Torben, der später mal Psychologie studieren will, aus Bonn in Chucks und blauem T-Shirt, Jacek aus Danzig in beigefarbenem Hemd und Flipflops. Torben war schon im letzten Jahr da. „Ich bin nirgendwo jemals so glücklich gewesen wie hier“, sagt er. Jacek ist eigentlich nicht religiös, und als Freunde ihn überredet haben, für eine Woche nach Taizé zu fahren, hat er sich an den Kopf gefasst. Jetzt sitzt er auf einer Holzbank und löffelt Erbsen.

Um den religiösen Gedanken geht es nicht in erster Linie, darüber sind sich beide einig. „Es geht um die Offenheit, um die Gespräche, darum, dass alle hier zusammenfinden an einem Ort, an dem man so angenommen wird, wie man ist“, sagt Torben. Jacek nickt und füllt seine Schale an der Wasserpumpe. „Man muss ja nicht religiös sein, um auf der Suche zu sein und Fragen zu haben. Und man findet junge Leute aus so vielen Ländern, die dieselben Fragen haben“.

Frère – zu deutsch: Bruder – Émile ist einer der 80 Mönche von Taizé. Ein Kanadier mit dunklen Haaren, grünem Hemd und Treckingsandalen. „Es ist nicht leicht für junge Menschen, andere zu finden, die auch Fragen haben, die etwas weiter unter die Oberfläche gehen.“ Frère Roger sei in Taizé nach wie vor präsent. Jemand, der es schaffte, „dass alle sich zu Hause fühlen“. Seine Idee wird weitergeführt seit der deutsche Bruder Alois nun der Gemeinde vorsteht. „Wir sind keine spirituellen Lehrmeister, aber wir sind Menschen, die zuhören“, zitiert Frère Émile den Gründer. Wer als Deutscher Taizé besuchen will, zahlt für ein Wochenende zwischen 8 Euro und 11,75 Euro, wie man will. Wer beispielsweise aus dem Kongo anreist, kommt noch preiswerter weg.

Bruder Émile hat sich umgezogen. In weißer Kutte läuft er zum Abendgebet in die Kirche, den hölzernen Flachbau mit Zwiebeltürmen. Ein großer, voller Saal mit Filzboden, kleinen Oberlichtern mit blauen Glasmosaiken, einem hölzernen Kreuz und einem Altar mit Kerzen, an dem orangefarbene Tücher von der Decke bis auf den Boden gespannt sind. In der Mitte des Saales sitzen die Mönche hintereinander in einem abgetrennten Oval auf kleinen Bet-Schemeln. Die Jugendlichen sitzen auf dem Boden, auf Treppen und Podesten. Einige von ihnen tragen Schilder mit der Aufschrift „Silence“, Ruhe.

Die meisten kennen die Lieder. Und egal, in welcher Sprache gerade gesungen wird, es singen alle mit. Die Mönche lesen Bibelstellen vor. Dann wieder die Lieder, die so simpel und eingängig sind und die man auch außerhalb der Kirche hört, wenn die Jugendlichen beim Küchendienst singen. „Gerade dadurch ist es so meditativ, weil die Lieder so oft wiederholt werden und man total abdriftet und entspannt“, sagt Torben und schließt die Augen. Es folgen zehn Minuten Schweigen, unterbrochen nur durch das Zwitschern der Vögeln, ab und zu ein Husten. Jacek sagt: „Da sind die zehn Minuten, in denen man nachdenken kann, in denen man allein ist und trotzdem mit so vielen zusammen.“

Plötzlich unterbricht ein Lied die Stille, dann noch eins. Das Kreuz wird in die Mitte auf den Boden gelegt. Das Lied Nummer 148 beendet die Messe . „Frieden hinterlasse ich euch“, heißt es. Die Mönche verlassen nacheinander, langsam die Kirche, barfuß, in weißen Kutten. Der Gesang der Jugendlichen bleibt. Erst nach und nach stehen sie auf und gehen. Nur der Mönch am Keyboard bleibt zurück.

Für Torben und Jacek waren es die letzten Schweigeminuten in Taizé. Morgen früh werden sie abreisen. Heute Abend wollen sie noch einmal feiern. Sie hätten nirgendwo so gute Partys erlebt wie hier. Am „Oyak“, einer kleinen Lichtung mit Bierbänken, sitzen Gruppen zusammen. Manche spielen Gitarre, viele tanzen und singen. „Wonderwall“ von Oasis, Lieder aus der Messe, aus dem hinteren Teil hört man „Grüß mir die Heimat, grüß mir mein Wuppertal“. Alkohol? Sieht man nicht.

Dabei sind ein Bier oder ein Cidre erlaubt. In den Zelt allerdings wird ab und zu von den Nightguards kontrolliert, auch wird schon mal Alkohol konfisziert, man kann ihn bei der Abreise ja wieder abholen. „Alkohol braucht man doch, um locker zu sein. Aber hier ist man sowieso fast den ganzen Tag wie auf Drogen, nur anders...“ sagt Torben. „Hört sich jetzt ein bisschen hippiemäßig an, aber es stimmt.“

Um elf werden die Lichter am Oyak ausgemacht. Die Jugendlichen protestieren und singen weiter, nach und nach gehen sie. An den Baracken stehen die Massen und unterhalten sich noch leise, mit Zahnbürsten in der Hand, Mädchen kichern. Einem lallenden Mädchen ist schlecht geworden. Es wird wohl doch manchmal heimlich getrunken. Aber immerhin wird die Italienerin von einer Gruppe besorgter Freundinnen gestützt und verspricht, es das nächste Mal zu lassen.

Der Parkplatz am nächsten Morgen ist voll. Busladungen, die an- und Busladungen, die abreisen. „Man wird kein anderer Mensch, wenn man eine Zeit in Taizé verbringt“, sagt Torben zum Abschied. „Man ist hier viel mehr man selbst, als man es zu Hause ist.“ Gemeinschaft und Verständnis war das, was Frère Roger gepredigt hat. Diese Werte sollten weitergetragen werden, auch nach seinem Tod vor einem Jahr.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false