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Panorama: Schnell müde, ohne Neugier, sozial gestört

Eine Schulleiterin über Probleme der Erstklässler

Mutet Berlin seinen Grundschülern zu viele Reformen zu?

Die Reformen an sich sind gut gedacht, aber die Umsetzung läuft an zu vielen Stellen schief. Jeder Reformschritt für sich, die Einschulung Fünfjähriger, keine Rückstellung der schulunfähigen Kinder, der Wegfall von Stunden zur sonderpädagogischen Förderung der Spezialklassen für Lernbehinderte und emotional-sozial auffälliger Kinder ist ein Mammutwerk. Das ist nur mit ausreichend Personal zu bewältigen. Alle haben davor gewarnt, dass es mit der Anzahl an Lehrern, die wir in Berlin haben, schief laufen würde. Nun haben wir das Ergebnis: Kinder landen in den psychiatrischen Abteilungen der Krankenhäuser.

Ist allein der Mangel an Lehrern schuld?

Mit mehr Lehrern kann man natürlich auch mehr machen. Aber es liegt nicht nur daran, dass wir zu wenig Lehrer haben. Es ist auch ein Ausstattungs- und Raumproblem. Die wenigsten Schulen haben genügend geeignete Räume, um Fünfjährige optimal zu betreuen. Oft sind die Klassenzimmer zu klein, um alle Schulanfänger individuell zu fördern und ihnen bei der Bewältigung ihrer Probleme zu helfen.

Die Räume waren doch in der Vergangenheit groß genug?

Die Klassen sind ja jetzt sehr heterogen, da sitzen Fünfjährige neben Siebenjährigen. Den einen muss man etwas eher spielerisch beibringen, dazu braucht man eine Spielecke, die anderen lernen schon an ihrer Schulbank. Dazu kommen in einer Stadt wie Berlin die großen Sprachprobleme, vor allem der Kinder mit Migrationshintergrund. Die Kinder haben größere Probleme als früher. Das kann einen Lehrer, wenn er alleine vor so einer Klasse steht, durchaus überfordern.

Mit welchen Problemen haben Erstklässler zu kämpfen?

Ich stelle fest, dass viele der besonders jungen Kinder heute schneller müde werden als früher. Außerdem muss man mit vielen Dinge einüben, die früher im Elternhaus trainiert wurden. Die Kinder aus Familien, in denen keiner mehr ein Buch in die Hand nimmt, muss man erst mal neugierig machen auf Schrift, auf Buchstaben. Die werfen lieber mit Bauklötzen um sich. Andere brauchen Zeit, um spielen zu können. Da setzt sich zu Hause keiner mehr hin und spielt ein Brettspiel mit den Kindern. Bei einem solchen Spiel wird aber Konzentration trainiert und wie man damit umgeht, wenn man verliert. Das müssen wir alles in der Schule nachholen.

Wie kommt es zu dem Personalmangel?

Offenbar hat der Finanzsenator das Geld für die Lehrer eher nach seinem subjektiven Gefühl geregelt als auf der Basis solider Berechnungen. In einer Stadt, in der die Armut zunimmt und immer mehr Kinder sozial und emotional gestört sind, muss man doch anders rechnen als in einer x-beliebigen Kleinstadt. Auch darauf zu hoffen, dass Dauerkranke zurückkommen, ist absurd. Die Lehrer sind durchschnittlich in einem Alter, in dem sie mit schweren Erkrankungen konfrontiert sind. Von denen kommen wenige zurück.

Wie viele Lehrer bräuchte es für eine Unterrichtsstunde?

Ideal wäre in den ersten Klassen ein Lehrer und ein Sozialpädagoge oder ein Lehrer und eine der früheren Vorklassen-Lehrerinnen. Und eine Klassengröße von maximal 24 Schülern. Wichtig ist auch, dass der Senat nicht einfach Reformen von oben verordnet. Man muss die Lehrer ernster nehmen.

Inge Hirschmann (54) ist seit vielen Jahren Vorsitzende des Grundschulverbandes Berlin und leitet die Heinrich-Zille-Grundschule in Kreuzberg. Mit ihr sprach

Claudia Keller.

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