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Panorama: Unterricht nach Gefühl

In der Oberlinschule lernen taubblinde Kinder. Einige von ihnen können die Welt nur ertasten, schmecken oder riechen

Wieder und wieder wippt ihr Öberkörper nach vorn. Sie hat die Beine im Schneidersitz übereinander geschlagen und sitzt auf einem Holzpodest. Der Rhythmus ihrer Bewegungen ist der des brummenden Basses von Rockstar Lenny Kravitz, der sich vom Lautsprecher über den Boden in Natalies Welt vibriert. Was die 20-Jährige nicht ertasten, schmecken oder riechen kann, das nimmt sie nicht wahr. Die Stimme ihrer Mutter kennt sie nicht, die Sonne hat sie noch nie gesehen.

Natalie ist taubblind und eine von 200 Schülern der Oberlinschule für Menschen mit Behinderung in Potsdam-Babelsberg. „Früher war Natalie autoaggressiv. Oft saß sie da, mit einem Handtuch auf dem Kopf und hämmerte mit den Fäusten auf sich ein. Das macht sie inzwischen nicht mehr“, erinnert sich die Heilpädagogin Yvonne Gutschmidt. Dazu mag auch die morgendliche Entspannungsphase im Musikraum der Schule beigetragen haben. Aber es bleibt wohl eine Vermutung. Denn ob und was Natalie wahrnimmt, was sie wütend macht oder glücklich, können auch diejenigen, die sie seit zehn Jahren hier betreuen, nur nach dem Gefühl beurteilen.

Nicht für alle 36 taubblinden Kinder der Oberlinschule ist die Welt so still und dunkel wie für die 20-Jährige. Die meisten haben ein Resthörvermögen oder nehmen ihre Umwelt noch schemenhaft wahr. Dank verschiedener Hilfsmittel – zum Beispiel Innenohr-Implantate – können sie ihrem Leistungsniveau entsprechend unterrichtet werden, wenn auch nur in kleinen Gruppen.

Martin (Name geändert) ist einer dieser Schüler. Sieben Jahre ist er alt und trotz seiner motorischen Störungen ständig in Bewegung. Das Sprechen hat er nie gelernt, weil er nichts hört. Durch ein Implantat, das an seinem Hinterkopf sitzt und mit einem Hörgerät verbunden ist, kann er inzwischen Geräusche und Laute wahrnehmen. Sprechen wird Martin dennoch mit großer Wahrscheinlichkeit auch in Zukunft ausschließlich mit den Händen. In der Oberlinschule lernt er gerade die Gebärdensprache: Das Streichen mit dem Zeigefinger über die rechte Wange steht für Mama, die zu einem Dutt geformte und an den Hinterkopf geführte Hand für Oma.

„Viele unserer Schüler haben Mehrfachbehinderungen, nicht nur Seh- oder Hörschwächen. Deshalb ist es wichtig, dass sie ganz intensiv und nur in Kleingruppen betreut werden“, sagt die Sprachbehindertentherapeutin Gudrun Aleyl. Und so kümmert sich ein Mitarbeiter nur um zwei Schüler. Und jeder von ihnen wird seinem Leistungsvermögen entsprechend gefordert und gefördert, ob im Sportunterricht, beim Werken, Lesen oder Schreiben. Blinde Kinder werden in der Punktschrift unterrichtet, taube in Gebärdensprache. Und wenn beides nicht möglich ist, wird mit den Fingern in die Hand „gelormt“. Vieles hier im Hertha-Schulz-Haus des Oberlinvereins, das benannt ist nach dem ersten taubblinden Mädchen, das 1887 aufgenommen wurde, läuft über das Tasten: Wände und Fußböden sind in verschiedenen Materialien gestaltet, das macht die Orientierung im Haus, dem auch eine Wohnstätte angeschlossen ist, leichter. Überall sind Geländer angebracht, die Türschilder in Braille-Schrift übersetzt.

„Wir versuchen, unsere Schüler zu größtmöglicher Selbstständigkeit zu erziehen“, sagt Torsten Burkhardt, Leiter des Taubblinden-Bereichs der Oberlinschule. „Das erfordert viel Geduld und Sensibilität, aber auch die Einsicht, dass schon kleine Schritte für die Entwicklung des Einzelnen bedeutsam sein können.“ Wie wichtig diese Selbstständigkeit ist, zeigt sich für die Schüler spätestens, wenn sie im Alter von 21 Jahren die Schule verlassen, ob nun mit Schulabschluss oder ohne.

Nicht alle haben eine Familie, die sich um sie kümmert. Manche der Schüler bleiben beim Oberlinverein und wechseln in die Wohnstätte für Erwachsene, oder sie finden einen Platz in einer Werkstatt für Behinderte. „Für alle gilt: Je selbstständiger sie sind, desto leichter finden sie sich auch außerhalb unseres geschützten Bereichs zurecht“, sagt Torsten Burkhardt.

In einem Jahr wird Natalie aus der Schule entlassen. Ihre Welt wird dunkel bleiben und still. Aber sie wird die Musik haben, die sie mit Händen und Füßen erleben kann. Oder mit dem Mund.

„Das ist gar nicht so ungewöhnlich. Viele Schüler lieben die Orgel in unserer Kirche. Wenn die Musik einsetzt, berühren die Kinder mit ihren Lippen die vibrierende Kirchenbank“, sagt Torsten Burkhardt. Das mag zwar für gesunde Menschen eine ungewöhnliche Welt sein, aber wer bereit ist, sich auf sie einzulassen, der kann sie irgendwann auch ein bisschen verstehen.

Esther Goldfarb

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