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Panorama: Wenn Nachhilfe nicht weiterhilft

In einer Lerntherapie finden Schüler heraus, wie sie besser lernen – und trainieren Konzentration

Anton lässt sich im Unterricht gerne von seinen Klassenkameraden ablenken. Textaufgaben liest er ungenau, versteht sie falsch und kann sie deshalb nicht richtig beantworten. Um seine Leistungen in Mathematik zu verbessern, nahm er ein Jahr lang Nachhilfeunterricht. Jedoch ohne Erfolg. Seit Beginn des Schuljahres macht Anton eine Lerntherapie.

Im Gegensatz zum Nachhilfeunterricht hat die Lerntherapie nicht das Ziel, Wissenslücken zu schließen und Fachwissen nachzuholen, sondern die Ursachen der Lernschwierigkeiten zu beheben. Dabei lernen Schüler, einzelne Lernschritte bewusst wahrzunehmen, Aufgaben selbstständig zu bearbeiten und eigene Lösungswege zu finden. Zu Beginn versuchen die Therapeuten in Gesprächen und mit Tests herauszufinden, wo die Stärken und Schwächen liegen.

Durch die sogenannte Eingangsdiagnostik erfuhr Anton, dass sein Problem nicht mangelndes Verständnis, fehlende Auffassungsgabe oder gar Intelligenz ist, sondern dass er sich nicht konzentrieren kann und Schwierigkeiten hat, strukturiert zu arbeiten. Gemeinsam mit der Schülerin Allison und der Lerntherapeutin Jessica Albrecht vom Memory Institut für prozessorientierte Lerntherapie übt er einmal pro Woche 90 Minuten lang Lernfertigkeiten, Motorik und „Braingym“ mit Rätseln. Die Lerntherapeutin begleitet die beiden Schüler bei ihren Aufgaben, die das sprachliche und mathematische Verständnis sowie die räumliche Vorstellungskraft trainieren. Wenn sie nicht weiterwissen, bringt sie die beiden mit Fragen dazu, die Lösung selbst zu finden.

Allison bearbeitet einen Übungsbogen, auf dem in jeder Spalte zwei Buchstaben stehen. Was sie mit den Buchstaben machen soll, muss sie selbst herausfinden. Sie beginnt, Wörter zu bilden. Aus einem kleinen m wird mein, aus dem großen Maus. Ist die Aufgabe erledigt, steht die Selbstkorrektur an. Die Lerntherapeutin will wissen, ob Allison mit ihren Ergebnissen zufrieden ist. Sie überprüft ihre Wörter ein zweites Mal und findet einen Fehler. „Mit eigener Kontrolle, gewinnen sie die Sicherheit, dass sie es richtig gemacht haben, sie erfahren Bestätigung und lernen, sich selbst zu helfen“, sagt Jessica Albrecht.

Anton versucht, Gemeinsamkeiten und Unterschiede von Dingen zu benennen. Bei dem Begriffspaar Eis und Käse tut er sich schwer. „Beides hat Geschmack, ist unterschiedlich geformt, das eine ausgefüllt, das andere löchrig“, sagt Anton. Er merkt, dass seine Adjektive nicht passen, sucht nach Wörtern und präziseren Ausdrücken. Gleichzeitig übt er, wie man sich auf eine Aufgabe konzentriert und lernt, in Worte zu fassen, was er tut.

Um Anton zu zeigen, dass er es sich mit seinem Chaos in der Schultasche unnötig schwer macht, brachte die Lerntherapeutin in seinem Zimmer seine ordentlich sortierten Sachen für den Hamster durcheinander. „Ich war wenig begeistert, weil ich nichts mehr gefunden habe“, sagt der Zwölfjährige. Es ist ihm gelungen, diese Erfahrung auf die Schule zu übertragen. Arbeitsbögen heftet er jetzt sofort ab, trägt sie ins Inhaltsverzeichnis ein, so dass er sie schnell wieder findet. „Diese bewusste Transferleistung ist ein entscheidender Prozess bei der Lerntherapie“, sagt Therapeut Matthias Raudat vom Memory Institut. Kinder würden sich in ihrer Freizeit häufig anders verhalten, diese Verhaltensweisen könnten sie auch im Unterricht nutzen.

Auch Schulen entdecken zunehmend, dass es nicht reicht, wenn Schüler Wissen anhäufen, dieses aber nicht anwenden können. So bietet die Moses-Mendelssohn-Schule in Moabit pro Tag eine Förderstunde mit integrierter Lerntherapie an. Schüler, die Textaufgaben lesen ohne den Sinn zu verstehen, haben dann die Möglichkeit, im Stoff zurückzugehen, und mit der fremden Hilfe nochmal neu zu lesen. Mit Bildern und visualisierten Buchstaben können versäumte Lernschritte nachgeholt werden. Gute Erfahrungen macht auch die Seeschule Rangsdorf, indem sie bei der Rechtschreibung und beim Rechnen Unterrichtsmaterial aus der Lerntherapie benutzen. Zum Einsatz kommen diese vor allem bei den Siebtklässlern, weil diese sehr unterschiedliche Voraussetzungen mitbringen.

„In Schulen wird zu wenig berücksichtigt, wie Kinder lernen“, sagt Psychologe Jens Lauer, der Lehrer in Sachen Lerntherapie fortbildet. Solange es Kinder gebe, die lernen, aber nicht weiterkommen, werde sich an den Ergebnissen der Pisa-Studie nichts ändern.

Die elfjährige Allison hatte in der Schule Angst, Aufgaben falsch zu verstehen und Fehler zu machen. In einem Jahr Lerntherapie hat sie gelernt, sich zu konzentrieren – und dass es erlaubt ist, Fehler zu machen. „Ich fühle mich heute sicherer“, sagt die Schülerin. Ihre Mutter Alexandra Musch kann das bestätigen. „Sie traut sich mehr zu, ist ausgeglichener und selbstständiger.“

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