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© Kai-Uwe Heinrich

Wer sind die eigentlich?: Findet Emo

Alles Heulsusen und Ritzer? Wir trafen Amy, 20, aus Lichtenrade. Ihre Augen sind dick geschminkt, die Haare schwarz gefärbt und hoch toupiert. Sie ist die Botschafterin einer missverstanden Jugendkultur.

„Umgangssprachlich“, sagt Amy, „werden wir Heulsusen genannt. Und schwul.“ Sie schaut direkt in die Webcam und macht einen Schmollmund. Ihre Augen sind dick geschminkt, die Haare schwarz gefärbt und hoch toupiert. Ein bisschen sieht sie aus wie Amy Winehouse, daher kommt auch ihr Spitzname. Amy ist 20, kommt aus Berlin-Lichtenrade und gibt auf YouTube Aufklärungsunterricht in Sachen Emo. Einer Jugendkultur, die häufig als weichlich, weinerlich und selbstmordgefährdet missverstanden wird. Amy versucht in ihren Clips, mit diesen Klischees aufzuräumen. Ihr Video „Was wollen Emos?“ wurde über 600 000-mal angeschaut.

Also, was wollen Emos? Im Live-Gespräch klingt Amys Stimme rauer als im Internet. Zuerst mal, sagt sie und nimmt einen Schluck Mango-Eistee – sehr orange, sehr süß –, seien sie und ihre Artgenossen einfach friedliche Leute. Wenn Amy mitbekommt, dass in der S-Bahn jemand dumm angepöbelt wird, mischt sie sich ein. Genauso macht sie das mit den von allen Seiten angefeindeten Emos. „Es gibt Leute, die nennen mich die Emo-Mutter-Teresa!“

Amy wirkt gut gelaunt, wie sie da am Cafétisch sitzt und mit dem Strohhalm spielt. Sie redet schneller, wenn sie von Musik spricht, der Grundlage jeder echten Jugendkultur. Emo, wie „Emotional Hardcore“. Erfunden Anfang der Neunziger von amerikanischen Bands, die in Abgrenzung zu anderen Hardcore-Traditionen nicht Rebellion und Stärke, sondern Persönliches wie Liebe, Freundschaft, Angst und Trauer thematisierten, in mal melodischeren, mal härteren Songs. Amy zählt Namen auf: Rites of Spring, Hüsker Dü, Jawbreaker. Es gibt viele andere, viele neuere, die auch Metal-, Punk- und Gothic-Stilmittel in ihre Musik aufnehmen. Zuletzt war Amy im Knaack-Club auf einem Konzert von Alesana. In deren Songs wechselt zartes Plingplang mit Schlagzeuggebolze, Säuseln mit kratzigem Geschrei: „One last false apology / help me get over you“. Der Musik-Hintergrund ist wichtig, findet Amy. „Wer Emo wirklich mit ganzer Seele lebt, beschäftigt sich auch mit der Musik.“

Amy ist Schritt für Schritt in die Emo-Welt hineingewachsen. Zuerst hat sie Metal gehört, dann Gothic, aus dieser Zeit stammt auch ihr YouTube-Nickname „Diamondoftears“. Damals hat sich noch über Emo lustig gemacht. „Bis ich gemerkt habe: Das ist eigentlich ziemlich viel ich!“ Vielleicht, überlegt sie, ist es aber auch das Melancholische, Introvertierte, das Emo attraktiv macht für Leute mit ernsthaften Problemen. Am Neptunbrunnen am Alexanderplatz, wo sich jedes Wochenende die verschiedensten Szenen treffen, ist ein gängiger Spottruf „Ritze, Ratze, E-M-O!“ Auf Amys Unterarmen ist eine Reihe zarter, heller Narben zu sehen. „Ja, ich hab mich mal geritzt“, sagt sie. Aber das war früher. Viel früher. Mittlerweile hat sie eine Therapie gemacht. „Wenn ich jetzt Schmerz brauche, hole ich mir ein neues Piercing.“ 21 hat sie inzwischen, an fast jeder Stelle ihres Körpers. Im Übrigen, stellt Amy fest, sei Ritzen kein Modeding, sondern eine Krankheit. Und die komme keineswegs nur bei Emos vor. „In jeder Szene gibt es Borderliner oder Depressive,“ sagt Amy ernst. „Über eine Million Leute sind in Deutschland wegen selbstverletzendem Verhalten in Therapie. So viele Emos gibt es gar nicht.“

Vielleicht ist es gerade das Ausstellen von Sensibilität, das andere Jugendkulturen provoziert. Auf YouTube gibt es neben Amys Videos unzählige Clips, die sich über Emos lustig machen oder sogar offen ihre Feindschaft erklären. Es gibt Blogs, die eine „Anti-Emosexuellen-Bewegung“ ausrufen. Vor ein paar Monaten haben Punks und Gothics in Mexiko sogar regelrechte Hetzjagden auf Emo-Kids veranstaltet. „Töte einen Emo!“ war der Slogan. Und der Berliner Rapper GinTonik hat kürzlich einen Hass-Track aufgenommen, der nicht nur auf dem alten Ritz-Klischee herumreitet, sondern Emos auch in einer an der Grenze zur Volksverhetzung rangierenden Sprache als „Transvestitengesindel“ beschimpft.

Hierauf angesprochen, lächelt Amy. „Ich finde den Track gut gemacht.“ Musikalisch. Dicke-Hose-Hopper wie GinTonik seien aber in ihrer Rollenauswahl ziemlich beschränkt: Harter, dumpfer Machomann. Punkt. Bei den Emos ist das anders. „Jeder küsst jeden“, sagt Amy. Wenn sie grinst, glänzt der kleine Silberring in ihrem Lippenbändchen. „Ich kenne viele Jungs, die mal ausprobieren wollen, wie es ist, mal mit einem Kerl zu sein. Ohne dafür blöd angegeuckt zu werden.“ Das sei auch ein Erbe der Hippie-Bewegung. In der Emo-Szene gibt es kaum Tabus, sagt Amy, auch nicht im Style. Vielleicht ist das ein weiterer Grund, warum andere Jugendkulturen sich auf den Schlips getreten fühlen. „Emos klauen sich einfach von überall das Beste,“ sagt Amy. Die Schirmmützen der Jungs von den Hoppern, die Schminke und die schwarzen Haare von den Gothics, die Deko-Würfel und -Kirschen und Totenköpfe vom Rockabilly. Dazu noch die Hello-Kitty-Accessoires! Amy lacht ihr raues Lachen. „Nehmt's als Kompliment!“ Sie selbst möchte einfach nicht in eine einzige Ecke passen. „Und darum passe ich nur noch in Emo.“

Dass ihre Sicht auf die Szene nicht die einzig mögliche ist, weiß Amy genau. „Ich repräsentiere nicht alle Emos“, betont sie. Aber sie wird als Autorität gesehen, auch durch ihre Videos. Emo-Mädchen schreiben ihr und fragen nach Styling-Tipps, manche wollen auch Lebenshilfe. Und am Neptunbrunnen habe neulich ein unbekannter Junge auf sie gewartet, um sich mit ihr fotografieren zu lassen. Amy, der Emostar. Sie ist regelmäßig am Alex, um zu skaten. Die Jugendlichen hier winken allerdings oft ab, wenn sie gefragt werden, ob sie Emo sind. Zum Beispiel Chris, 18 Jahre alt, Fleischerlehrling aus Bad Freienwalde. „Ich war mal Emo“, sagt er und blickt zu seinem Zwillingsbruder Chippi herüber, beide tragen gemusterte H&M-Sweatjacken, Röhrenjeans und buntgefärbten Pony unter der Skatermütze. „Jetzt bin ich Nintendo-Core.“ Chris holt sein mp3-Handy raus und drückt Play. Die beiden nicken grinsend mit dem Kopf. Gitarrengeratter, Computergepiepe, Geschrei. Es klingt wie Alesana auf einer Zockerparty.

Im Café lacht Amy, als sie diese Geschichte hört. Ihr Mango-Eistee ist fast leer. „Es ist Emo zu sagen, dass man nicht Emo ist!" Niemand lasse sich schließlich gern in eine Schublade stecken. Und Emo, das weiß auch Amy, hat längst auch kommerzielle Seiten. Irgendwann muss man sich einfach abgrenzen und was Neues anfangen. Wie Chris und sein Bruder. Und sie selbst? Wird sie immer Emo sein? „Jedenfalls werde ich immer irgendwie anders sein.“ Im Dezember will sie nach Israel gehen, um dort zu studieren. Modedesign. Schauspielerei. Oder was anderes. „Und nebenbei“, sagt sie und lässt nochmal ihr Piercing blitzen, „gründe ich die israelische Emo-Szene.“ Von Amy wird wohl noch so einiges zu hören sein.

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