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Panorama: Zu Besuch bei Rütli

Ex-Schüler Wolfgang Graeser war positiv überrascht

Als ich in den vergangenen Tagen die Berichte über die Neuköllner Rütli-Schule las, traute ich meinen Augen nicht. Denn auch ich bin vor vielen Jahren auf diese Schule gegangen und habe sie vor wenigen Monaten noch mal besucht. Dabei habe ich die Schüler ganz anders wahrgenommen, als sie in den Zeitungen beschrieben werden.

Ich selbst kam 1951 als Achtklässler auf die Rütli-Schule. Nach einem Orientierungsjahr in der siebten Klasse wurde gegen meinen Willen entschieden, dass ich auf der damaligen Oberschule Praktischen Zweiges meine weitere Schullaufbahn fortsetzen muss. So nannte man damals die Schulform, die heute die Hauptschule ist. Es war ein Schock für mich.

Wir waren eine bunt zusammengewürfelte Jungenklasse. Die Lehrer gaben sich redlich Mühe, uns etwas beizubringen, aber waren doch nur mangelhaft dafür ausgebildet, so kurze Zeit nach Nazi-Herrschaft und Kriegsende.

Am besten kann ich mich noch an den Musikunterricht erinnern. Da kratzte ein schon etwas älterer Lehrer mehr schlecht als recht auf der Geige und wir mussten dazu „Ännchen von Tharau“ singen. Die Schule war damals bereits mit der Oberschule Technischen Zweiges (der heute benachbarten Realschule) in einem Gebäude untergebracht, so dass wir mit Schulfreunden aus der Grundschulzeit in den Pausen auf dem gemeinsamen Schulhof zusammentreffen konnten.

Es war für mich eine traurige Zeit in der Rütli-Schule. Ich hatte das Gefühl, dass meine Fähigkeiten und Begabungen überhaupt nicht wahrgenommen wurden. Ich war fest davon überzeugt, dass viel mehr in mir steckt. Deshalb war ich wahrscheinlich auch einer der wenigen, der eine Lehrstelle fand. Ich bin in Neukölln von Tür zu Tür gegangen und habe einen Betrieb so lange genervt, bis er mich als Lehrling genommen hat. In der Ausbildung hatte ich das Glück, an Lehrer zu geraten, die ahnten, dass ich noch mehr kann. Einer empfahl mir, die Begabtenprüfung zu versuchen. Ich schaffte sie und studierte Innenarchitektur. Von der Innenarchitektur kam ich später zum Hochbau.

Im Herbst 2005 besuchte ich die Rütli- Schule noch einmal. Ich dachte, es könnte für die heutigen Jugendlichen interessant sein, zu erfahren, dass man es auch als Hauptschüler zu etwas bringen kann, wenn man nur an sich glaubt. Mich beschäftigten die Probleme, die die Jugendlichen unter gänzlich anderen Bedingungen haben, um ihren persönlichen Berufsweg zu finden. Ich wollte ihnen mit meinem Beispiel Mut machen. Die Lehrer waren gleich sehr interessiert und luden mich für eine Schulstunde in eine zehnte Klasse ein. Die Stunde verlief sehr gut, die Lehrer luden mich eine Woche später noch mal ein.

Mich irritierte, dass das Schulgebäude und die Lehrerzimmer verschlossen waren. Das war zu meiner Schulzeit anders. Aber dann war ich positiv überrascht. Ich erlebte interessierte, aufgeweckte junge Menschen, die aufmerksam und konzentriert zuhörten. Es waren in der Mehrheit Jugendliche aus arabischen und türkischen Familien, die sich meine Lebensgeschichte anhörten.

Ich habe den Eindruck, dass in diesen jungen Menschen viel Potenzial steckt, das man fördern muss. Die jetzige öffentliche Diskussion wird dem nicht gerecht. In meine Fähigkeiten hatte man damals wohl auch keine großen Hoffnungen gesetzt. Meine Eltern wollten, dass ich zur Post gehe. Ich habe mich dadurch nicht abschrecken lassen und meinen Weg selbst gefunden.

Wolfgang Graeser ist 68 Jahre alt und arbeitete bis zum Jahr 2000 als Architekt in Berlin.

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