Zum Tod von Harper Lee: Die Nachtigall singt nicht mehr
Für ihren Bestseller "Wer die Nachtigall stört" erhielt Harper Lee den Pulitzer-Preis. Nun ist die Autorin im Alter von 89 Jahren gestorben.
Eigentlich hieß sie nicht Harper, sondern Nelle Lee. Das war, von hinten buchstabiert, der Name ihrer Großmutter Ellen. 1926 geboren in Monroeville, im US-Bundesstaat Alabama geboren, wo sie am Freitag auch 89-jährig starb, gehörte Lees Vater, ein Rechtsanwalt, zu den Honoratioren der kleinen Stadt.
Die seelisch instabile Mutter hatte zwei Mal versucht, Nelle in der Badewanne zu ertränken. Doch beide Male wurde sie, wie ihr im Nachbarhaus wohnender Freund Truman Capote später berichtete, von einer älteren Schwester gerettet. Zusammen mit Truman tobte sie durch die Gärten von Monroe. Er war es auch, der sie ermutigte, ihr Jura-Studium abzubrechen, um sich der Literatur zu widmen. Die gemeinsame Vergangenheit machte sie zum Stoff eines Romans.
1960 erschien unter dem Namen Harper Lee ihr Romandebüt „Wer die Nachtigall stört“ und wurde überraschend zum Welterfolg. Es gilt heute als das meistgelesene Buch über den US-amerikanischen Rassismus und verkaufte sich weltweit über 40 Millionen Mal. Als Figur erlangte besonders der von Lees Vater inspirierte, stets anständige und unbestechliche Rechtsanwalt Atticus Finch Ruhm. Das Zentrum des Kindheitspanoramas bildet ein Gerichtsprozess, bei dem Finch mutig einen schwarzen Mandanten gegen die Anschuldigung verteidigt, eine weiße Frau vergewaltigt zu haben. Es kommt nicht zum Freispruch, aber immerhin zu einem moralischen Sieg.
2015 wurde überraschend ein weiterer Roman veröffentlicht
Weitere Schreibversuche endeten im Nichts. Ihre Interessen als Autorin vertrat die ältere Schwester Alice. Ihr letztes Interview gab Lee in den sechziger Jahren. Nur ihre Lektorin und wenige Vertraute wussten, dass „Wer die Nachtigall stört“ einen Vorläufer hatte: mit demselben Personal und demselben Schauplatz, nur zwanzig Jahre später angesiedelt. Der Roman erzählte von der Rückkehr der erwachsenen Heldin nach Maycomb, wie das fiktionalisierte Monroeville bei Lee heißt. 1957 abgeschlossen und dem Verlag übergeben, empfahl Lees Lektorin, das vorhandene Manuskript zu überarbeiten, die Handlung in die Zeit der Depression vorzuverlegen, die Erzählperspektive zu ändern und den Gerichtsprozess ausführlicher zu schildern.
2015 weltweit als überraschende Entdeckung lanciert sollte er den Erfolg des Erstlings wiederholen – es gelang ihm nicht. Denn „Gehe hin, stelle einen Wächter“ ist, wie Maike Albath im Tagesspiegel bemerkte, nicht viel mehr als „ein eher konventioneller Roman mit einigen starken Momenten. Der Konflikt wird schematisch in Streitgesprächen zwischen Jean Louise und ihrem Vater, Jean Louise und ihrem Verlobten, Jean Louise und ihrem Onkel durchdekliniert.“ Das charmant Plaudertaschenhafte des Debüts sei einer kontrollierten und langweiligeren Erzählerstimme gewichen. Überdies leide das Buch unter einem süßlich-versöhnlichen Schluss. Interessant ist es als gesellschaftspolitisches Dokument: Während der tapfere Atticus Finch in der „Nachtigall“ ein aufgeklärter Bürger war, verkörpert er im „Wächter“ einen sehr viel hartleibigeren und vermutlich typischeren Repräsentanten des weißen Amerika. Tsp
- showPaywall:
- false
- isSubscriber:
- false
- isPaid:
- showPaywallPiano:
- false