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Als deutsche Soldaten verkleidete Männer liegen am 11.04.2015 in einem Schützengraben während des "1940s Family Experience Weekend" in Bushey, Großbritannien.

© Johanna Heckeley/dpa

Zweiter Weltkrieg nachgespielt: "Die Deutschen denken doch, dass wir alle Nazis sind!"

Nazis wollen sie nicht sein - nicht im politischen Sinne. Dennoch schlüpfen Historienfans in Großbritannien gern mal in die Uniform von SS-Soldaten. Das heißt dann "Living History" oder "Reenactment" und ist ein durchaus angesehener Weg der Geschichtsvermittlung.

Die Gesichter der SS-Leute sind angespannt, die Finger am Abzug ihrer Waffen: Der Gegner lauert hinterm Grenzposten. Hektisch positionieren sie sich um einen Pritschenwagen. Jetzt fallen Schüsse. „Evakuierung! Auf den Wagen!“, brüllt ein Soldat in deutscher Sprache, aber mit britischem Akzent. Fünf Frauen klettern hastig auf die Ladefläche. Der Panzer davor feuert, die Frauen ducken sich. Dann ist die Vorführung vorbei. Die Frauen klettern kichernd vom Transporter, die Männer in Uniform lassen ihre Maschinenpistolen sinken und lehnen sich lässig an die Oldtimer. Die Laiendarsteller der „2. SS-Panzerdivision „Das Reich“ - 2. Kompanie Aufklärungsabteilung“ haben gerade gezeigt, wie sie sich das Geschehen im Jahr 1945 vorstellten: SS-Soldaten bringen Prager Zivilisten in Sicherheit und kapitulieren anschließend.

Die Männer und Frauen machen Living History (deutsch: Lebendige Geschichte) und sind eine der Attraktionen auf dem „40er Jahre Erlebniswochenende für Familien“ in Bushey bei London. Es ist nur ein Beispiel für den Hang zur kriegerischen Vergangenheit auf der Insel. Größtes Spektakel ist alljährlich das „War and Peace“-Revival, bei dem Tausende Darsteller zum Nachstellen historischer Schlachten anreisen. Für die Ausgabe 2015 Ende Juli in Folkestone an der Kanalküste werden schon die Waffen gereinigt. Auf der Webseite des Festivals lächelt eine junge Frau, die an Kriegerwitwen aus den 40ern erinnern soll - neben der Mündung einer Panzerkanone.
„Die Deutschen denken doch, dass wir alle Nazis sind!“ Louise, die ihren Nachnamen nicht nennen möchte, spielt heute eine Zivilistin.

Kein „Sieg heil“

Mit ihren langen rotblonden Zöpfen, dem schlichten, dunkelblauen Kleid und dem Hakenkreuz-Ring könnte sie tatsächlich den 40ern entsprungen sein. Rassistische Ansichten seien in ihrer Gruppe aber nicht erlaubt. „Wir haben keine politische Agenda. Wir machen Living History, aber nichts Anstößiges“, sagt Louise. „Bei uns werden Sie kein „Sieg heil“ sehen.“ Sie ist überzeugt, dass ihr Hobby helfen kann, Geschichte zu verstehen: „Wir haben mit Veteranen gesprochen und wollen das weitergeben. Wenn sie sterben, sind wir die einzigen, die noch deren Geschichte erzählen können.“ Paul Walker lehnt am Pritschenwagen - ein Originalfahrzeug. Das metallene SS-Totenkopfemblem an seiner Mütze glitzert in der Sonne, auf seiner Uniform, eine detailgetreue Reproduktion, prangen einige Abzeichen. „Die bekommt man nicht einfach so, die muss man sich in der Gruppe erst verdienen.“

Der als deutscher Soldat verkleidete Tim Chance sitzt am 11.04.2015 auf einem Fahrrad, an dessen Vorderteil zwei Nachbildungen von Panzerfäusten angebracht sind.

© Johanna Heckeley/dpa

Einer der Orden zeichnet ihn für drei Reenactment-Schlachten aus, in denen er schon gefochten hat und das andere für ein gebrochenes Bein, das er sich dabei zuzog - das war nicht gespielt. Ob es ihm nichts ausmache, so auszusehen wie ein grausamer SS-Soldat? „Das waren nur vermeintlich böse Typen, aber nicht alle waren schlecht. Das wollen wir zeigen.“ Und: „Es gibt keine Cowboys ohne Indianer.“ Im Wald haben die „Guten“ ihr Zeltlager mit Feuerstelle und Wachposten aufgebaut - sie stellen Amerikaner und Sowjets dar. Peter Carpenter hockt entspannt in einem Graben und nippt an seinem Feldbecher. Nach dem eingeritzten Namen auf dem Boden hatte den wohl ein Amerikaner im Zweiten Weltkrieg dabei.

„Sehr persönlich“ fühle sich das an, meint der 20-Jährige in US-Uniform. Seine Gruppe mimt heute das „504. Parachute Infantry Regiment“, das sich im April 1944 im italienischen Anzio gegen Deutsche und Italiener stellte. Besonders sei das Gemeinschaftsgefühl: „Wenn wir dann abends bei einem Bier am Feuer sitzen - großartig.“ Die Opfer der grausamen und verbrecherischen Nazi-Diktatur spielen bei der „Geschichtsvermittlung“ eine untergeordnete Rolle. Die Massenvernichtung von Menschen jüdischen Glaubens etwa, an denen SS-Soldaten maßgeblich beteiligt waren, wird ausgespart.

Jüdische Besucher reagierten empört

Nicht immer geht das gut: Auf dem „Wartime Weekend“ 2012 in Ramsbottom und Bury reagierten jüdische Besucher auf Teilnehmer in SS-Uniform erschüttert. Damit nicht genug: Ein Teilnehmer habe sie gefragt, ob sie sich nicht als Flüchtlinge verkleiden wollten, sagten sie der Zeitung „Manchester Evening News“. Nazikostüme und -insignien sind auf diesem Treffen inzwischen verboten.

Ross Wilson, Historiker und Experte für Kriegsgedenken an der Universität Chichester, hält Living History für eine nützliche Bildungsmethode. Die Begeisterung der Briten in diesem Zusammenhang für den Zweiten Weltkrieg erklärt er mit einem nostalgischen „Gefühl von Stolz und Erfolg“. Das Reenactment habe aber auch Grenzen: „Es kann nicht die Verluste, den Horror und die Tragik des Konfliktes wiedergeben.“ Daher werde es von einigen Akademikern als „keimfreie“ Version der Geschichte kritisiert. Es gehe mehr um die Erlebnisse und Gefühle der Darsteller, als um das Verständnis der Historie.

In Deutschland gibt es keine Reenactment-Gruppen, die den Zweiten Weltkrieg nachspielen, „jedenfalls keine, die das öffentlich machen“, meint Ulrike Jureit. Sie forscht am Hamburger Institut für Sozialforschung an einem Projekt über die Erfahrung von Krieg und Gewalt im Reenactment. In Deutschland sei das weitgehend tabuisiert. Aber Gruppen, die ältere historische Gefechte nachstellten, etwa antinapoleonische Kriege, hätten regen Zulauf.
„Das zeigt, dass die Leute ein Bedürfnis nach einem emotionalen Zugang zur Geschichte haben“, sagt Historikerin Jureit. „Dazu kommt der Erlebnisfaktor.“ Den Anspruch der Gruppen auf möglichst authentische Darstellung sieht sie kritisch. Und: „Der Kern der historischen Darstellung, der Tod auf dem Schlachtfeld, ist nicht nachspielbar.“ (dpa)

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