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Wirtschaft: Aggression erwünscht

Novartis-Chef Daniel Vasella war früher Psychoanalytiker – warum ihm das im Wirtschaftsleben nützt

Novartis-Chef Daniel Vasella gilt als ungeduldig. Das ist eine Eigenschaft, die nicht gerade zu einem Arzt und Psychoanalytiker passt – das war Vasella aber, bevor er in der Pharmabranche Karriere machte. Nur selten erwähnt der Chef des Schweizer Pharmaherstellers Novartis sein früheres Berufsleben. „Ich will nicht, dass die Leute befürchten, sie würden analysiert“, sagt Vasella, der in den 80er-Jahren nach seinem Medizinstudium eine Weiterbildung zum Psychoanalytiker machte. Er sei bei Novartis „weder Therapeut noch Arzt von irgendjemandem und möchte es auch nicht sein“. Doch räumt Vasella ein, dass „die eigene Lebensgeschichte das Denken und Handeln beeinflusst“.

So ist es für den früheren Psychoanalytiker bei Entscheidungsprozessen „sehr wichtig, mir aller meiner Gefühle bewusst zu sein“. Als er im April die Übernahme des deutsch-französischen Pharmakonzerns Aventis erwog, nahm er die eigenen Emotionen ebenso ernst wie rationale Überlegungen. Dass die französische Regierung die Übernahme blockieren wollte, änderte nichts an seiner Überzeugung, dass eine Fusion von Novartis und Aventis vernünftig wäre. Dennoch ärgerte er sich über Frankreichs Intervention. Mehr als das: Er befürchtete, Novartis könne in einen Bieterkampf hineingezogen werden. Vasella entschied sich gegen ein Übernahmeangebot.

Bei der Psychoanalyse wird der Patient ermutigt, alles auszusprechen, was ihm durch den Kopf geht, um unbewusste Gedanken zu enthüllen. Offenbar kann das etwas bewirken. Vasella gab die Psychoanalyse „die Freiheit, so zu sein, wie ich bin, statt mich so zu verhalten, wie ich es meiner Meinung oder der Meinung anderer nach tun sollte“. Bis das Gehirn „ein neues Muster lernt, dauert es allerdings lange“, sagt Vasella. Das sei der Grund, warum die Analyse ein zeitintensives Verfahren sei.

Die Patienten sehen bei einer Psychoanalyse in der Regel mehrfach die Woche ihren Therapeuten. Heute, im Zeitalter von Psychopharmaka (die Novartis übrigens nicht herstellt), sei Psychoanalyse aus der Mode geraten, sagt Vasella. Sein Interesse an der Psychoanalyse begründet er damit, dass „ich mich so gut wie möglich verstehen und so viel wie möglich über mich lernen wollte“.

Erstmals wandte sich Vasella im Alter von 17 Jahren an einen Psychoanalytiker. Hinter ihm lag eine schwere Kindheit, die von Krankheit und Verlusten geprägt war. Mit acht Jahren bekam er Tuberkulose und musste ein Jahr in einem Sanatorium fern von seiner Familie verbringen. Als er zehn war, starb seine Schwester an Krebs. Drei Jahre darauf verlor er seinen Vater. Weil er sich als Teenager die Behandlung nicht leisten konnte, begann er erst mit 26 Jahren eine Analyse. Vasella war damals Arzt und behandelte einige Patienten, deren Krankheiten psychologische Gründe hatten. Vier Jahre lang fuhr er vier Mal in der Woche von Bern nach Zürich zu einem Analysten, der ihm half, seine eigene Psyche zu erforschen und ihn zu einem Analysten ausbildete. Später begann er, neben seiner Arbeit als Internist unter der Aufsicht erfahrener Psychoanalytiker Patienten mit psychosomatischen Krankheiten zu behandeln.

1988 beschloss Vasella im Alter von 34 Jahren, von Medizin auf Wirtschaft umzusatteln. „Ich wechselte den Beruf nicht wegen der Analyse, sondern weil mir die Analyse möglich machte, mich zu verändern. Ich gewann durch die Analyse die Überzeugung, selbstbestimmt statt fremdbestimmt zu sein“, sagt er. „Ich war mir bewusst, dass das Leben sehr schnell vorbei sein kann und ich wollte unbedingt viel in einer kurzen Zeit machen.“ Mit diesen Gedanken stieg Vasella bei Sandoz Pharma ein, der Pharma-Tochter des Schweizer Mischkonzerns Sandoz. Der Onkel seiner Frau saß im Vorstand.

Vasella stellte in einem amerikanischen Büro des Unternehmens schnell seine Führungsqualitäten unter Beweis. Als Produktmanager für das Medikament Sandostatin zwang er Forscher, Entwickler und Marketing-Manager, zusammen zu arbeiten, Informationen auszutauschen und auf die Vorstellungen der anderen Manager zu hören. Das Medikament wurde zum Erfolg. Der Umsatz schnellte in die Höhe, als Sandoz herausfand, dass das Medikament für die Behandlung von Nebenwirkungen bestimmter Krebsformen geeignet ist.

Vasella arbeitet lieber in der Wirtschaft als im Krankenhaus, weil er seine Aggressionen stärker ausleben könne, sagt er. Nachdem er 1996 Chef von Novartis wurde – einem Konzern, der durch die Fusion von Sandoz und Ciba-Geigy hervorging – stieß er alte Geschäftsbereiche ab und entließ 12500 Angestellte. „In der Wirtschaftswelt geht es darum, wie man den Konkurrenten schlagen kann“, sagt er. „Aggressives Verhalten ist erwünscht.“ In Krankenhäusern könne der Wettbewerb hinterhältiger sein und zu „schmutzigen Machtkämpfen“ ausarten.

Seine psychoanalytischen Berufserfahrungen waren nicht umsonst. Er verwendet zum Beispiel die psychoanalytische Kunst des Zuhörens bei Vorstellungsgesprächen. „Ich frage mich dann, ob ich interessiert, entspannt, angespannt oder gelangweilt bin und woran es liegt, dass ein Kandidat bei mir ein bestimmtes Gefühl hervorruft. Bin ich zum Beispiel nervös, weil er von einem Detail zum anderen springt oder bin ich gelangweilt, weil er lügt?“ Er findet außerdem, dass in der Wirtschaftswelt jeden Tag neu eine Familiendynamik abläuft. „Es gibt eine Hierarchie, die gewissermaßen die Machtverteilung in der Familie widerspiegelt“, sagt er. „Manche Menschen behandeln ihre Vorgesetzten wie eine Mutter oder einen Vater. Und einige Vorgesetzte verhalten sich wie Elternteile und vergessen, dass ihre Kollegen Erwachsene sind“, sagt er.

Vasella verlangt nicht von den Novartis-Angestellten, dass sie sich selbst ebenso stark reflektieren wie er. „Ich bin auf Mitarbeiter angewiesen, die sich sehr auf Ergebnisse konzentrieren“, sagt er. „Wenn sich jeder wie ich verhielte, könnten wir nicht erfolgreich sein.“ Unabhängig davon zieht er Mitarbeiter vor, die Position beziehen. „Ich möchte Angestellte, die ihre Meinung sagen. Erst dann kann man richtig diskutieren.“

In seine Arztrolle rutscht Vasella nur ganz selten zurück. Ein paar Mitarbeitern, die mit dem Stress nicht klar kamen oder Suchtprobleme hatten, riet er, externe Hilfe zu suchen. Aber die Angestellten erzählten ihm nur selten von ihren Problemen, sagt er, weil er der Unternehmenschef sei.

Carol Hymowitz

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