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Wirtschaft: Berliner Arbeitnehmer sind häufig krank

Krankenstandsquote doppelt so hoch wie im Westen / Unternehmen reagieren mit "Rückkehrgesprächen und Gesundheitszirkeln"VON KAREN WIENTGEN BERLIN.Die Hauptstadt kränkelt - nicht nur wegen ihres maroden Haushalts und der schwachen Wirtschaft.

Krankenstandsquote doppelt so hoch wie im Westen / Unternehmen reagieren mit "Rückkehrgesprächen und Gesundheitszirkeln"VON KAREN WIENTGEN BERLIN.Die Hauptstadt kränkelt - nicht nur wegen ihres maroden Haushalts und der schwachen Wirtschaft.Berliner Arbeitnehmer fehlen im Bundesdurchschnitt am häufigsten bei der Arbeit.Mit 8,2 Prozent liegt die Krankenstandsquote der Pflichtmitglieder der Betriebskrankenkasse des Landes Berlin (BKK) fast doppelt so hoch wie im westdeutschen Durchschnitt (4,6 Prozent).Das habe mit den "gewachsenen Strukturen" Berlins zu tun, die sich von der anderer Großstädte unterscheiden, meint Almut Veidt, Sprecherin der BKK Berlin.Man habe Berlin nachgesagt, keine Großstadt zu sein, sondern provinziell und gemächlich.Das zeigte sich auch im Arbeitsleben: Die langjährigen Subventionen führten dazu, daß die Arbeitnehmer einem geringeren privatwirtschaftlichen Druck als anderswo ausgesetzt waren, so Veidt.Außerdem sei hier der Verwaltungsanteil traditionell besonders groß.Gleichzeitig hatte es die Bevölkerung auch schwerer: Aufgrund der "Insellage" gab es "keine Naherholungsgebiete im Hinterland", so Veidt.Zudem würden in Berlin besonders viele Menschen in schweren Berufen arbeiten. Angesichts dieser Spitzenposition in Sachen Krankenstand besteht für die Berliner Unternehmen Handlungsbedarf.Und Handlungsmöglichkeiten gibt es genug: Rückkehrgespräche und Gruppenarbeit, Führungskräfteschulungen und Gesundheitszirkel - das ist nur eine Auswahl an Schlagwörtern, die die Experten gebrauchen.Grundsätzlich ist nach Angaben der BKK-Sprecherin Veidt zwischen einer Analyse der betrieblichen Ursache von Krankheiten und Verbesserungsmaßnahmen - etwa einem körpergerechten Arbeitsplatz aber auch sozial-organisatorischen Ansätzen - zu unterscheiden.Für Rolf Rosenbrock, Leiter der Arbeitsgruppe Public Health am Wissenschaftszentrum Berlin (WZB), sind die letzteren wichtiger."Es ist erforderlich, Anreize zu schaffen, damit die Leute zur Arbeit gehen.Es muß ihnen das Gefühl vermittelt werden, gebraucht zu werden." So können Rückenschmerzen, eine der häufigsten Ursachen für Krankschreibungen, auch durch "gerecht und halbwegs transparent empfundene Umfangsformen im Betrieb sowie Kommunikation am Arbeitsplatz" vermindert werden.Bis zu einem Drittel, zum Teil sogar bis zur Hälfte, könne der Krankenstand durch solche betrieblichen Maßnahmen verringert werden. Beherzigen Berliner Unternehmen die wissenschaftlichen Ratschläge? Siemens hat vor einigen Jahren ein "Top-in-Form-Programm" gestartet.Nicht nur das Verhalten der Führungskräfte soll damit in die richtige Form gebracht werden.Nach Angaben von Christian Sekula, Geschäftsleiter der Betriebskrankenkasse von Siemens Berlin, umfaßt das Programm auch Führungsgespräche, Gesundheitsförderung und ergonomische Maßnahmen.Entscheidend sei, "die Eigenverantwortung zu stärken", hebt Sekula hervor.Der Betriebsratsvorsitzende Olaf Bolduan hält den Ansatz "im Grundsatz für richtig, wenngleich in der Umsetzung noch entwicklungsbedürftig".Oft würden die Rückkehrgespräche "nicht im wohlmeinenden Sinn" geführt.Derzeit ist die Krankenstandsquote von Siemens Berlin mit knapp sechs Prozent fast doppelt so hoch wie der deutschlandweite Wert von 3,1 Prozent.Doch mit "Top-in-Form" will Siemens in Berlin unter drei Prozent kommen. Nicht nur bei Siemens, auch bei Schering ist man von dem Erfolg betrieblicher Maßnahmen überzeugt.Seit Anfang der 90er Jahre konnten "die Krankenstände dadurch zum Teil signifikant gesenkt werden", erklärt Unternehmenssprecher Michael Langenstein.1995 lag der Krankenstand bei dem Pharmahersteller noch bei 5,6 Prozent, 1997 bei 4,4 Prozent.Das Programm, das anfangs nur "in ausgewählten Gebieten" eingesetzt wurde, ist im vergangenen Jahr auf das gesamte Unternehmen ausgeweitet worden.Knackpunkt sind Gespräche zwischen Vorgesetztem und Mitarbeiter, die aus Krankheitsgründen gefehlt haben, so Langenstein."Im Einzelfall wird nach den Ursachen der Krankheit geforscht.Insgesamt geht es aber nicht darum, Druck auf den Mitarbeiter auszuüben." Gespräche dienten auch dazu, Mitarbeiter "auf dem Laufenden zu halten". Auch die BVG hat sich aktiv um die Senkung ihres Krankenstands bemüht - bei einer Fehlzeitenquote von 13,4 Prozent im Jahre 1993 auch kein Wunder.Mittlerweile haben sich die Verkehrsbetriebe nach eigenen Angaben auf einen Krankenstand von 7,8 Prozent vorgekämpft und sparen damit jährlich 14 Mill.DM."Ein ganzes Maßnahmenbündel" sei eingesetzt worden, sagt BVG-Personalvorstand Wilfried Mehner.Führungskräfte seien darin geschult worden, sich mehr um die Mitarbeiter zu "kümmern".Rückkehrgespräche und die Rücksichtnahme auf Alleinerziehende bei Erstellung der Dienstpläne seien jetzt Standard.Und damit die Angestellten auch sofort ihre Probleme loswerden können, wurde ein Gruppenleitersystem eingeführt. Nicht jedes Unternehmen gibt zum brisanten Thema Krankenstand bereitwillig Auskunft.Die Berliner Niederlassung von Mercedes-Benz beispielsweise läßt nichts nach außen dringen.Nur indirekt wird zugegeben, daß die Krankenstandsquote höher sei als im Rest des Unternehmens.Ein Zeichen, daß hier etwas nicht stimmt? Zu tun ist sicherlich noch viel.Im Vergleich mit Skandinavien sei Deutschland, was die betriebliche Vorbeugung angehe, ein Entwicklungsland, sagt Rolf Rosenbrock vom WZB.

KAREN WIENTGEN

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