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Wirtschaft: Berliner Kammerton

Wirtschaftsgeschichte aus der Praxis: Ein detailreicher Jahrhundertbericht würdigt die Industrie- und Handelskammer der Hauptstadt

Berlin - Alle Kammern erstatten Jahresberichte, um über ihre Arbeit Rechenschaft abzulegen. Aber die Industrie- und Handelskammer (IHK) zu Berlin verfügt jetzt – ein rarer Fall – sozusagen über einen Jahrhundertbericht. Das Buch von Thomas Hertz über ihre Geschichte hebt die nüchterne Tätigkeit einer Vertretungskörperschaft auf die Ebene der Historizität, und da ihr Autor der langjährige Hauptgeschäftsführer der Kammer ist, geschieht das wirklich aus der täglichen Arbeit heraus. Und ein Beitrag zur Berliner Wirtschaftsgeschichte und zur Selbsterkenntnis der Stadt ist das Buch auch. Weil wir das, was ist, wie der Historiker Johann Gustav Droysen erkannt hat, erst dann ganz begreifen, „wenn wir erkennen und uns klarmachen, wie es geworden ist“.

Am Anfang steht der rasante Aufstieg der Kammer nach ihrer Gründung 1902 – nach jahrzentelangem Ringen zwischen einer zerstrittenen Kaufmannschaft und dem drängenden Staat. In diesem Anfang spiegelt sich die stürmische Entfaltung Berlins und des Kaiserreiches. Für den Autor verkörpert sich diese Blütezeit der Kammer in den Gestalten der zwei Präsidenten Wilhelm Herz und Franz von Mendelssohn. Beides grandseigneurale Gestalten, im Geschäftsleben wie in der bürgerlichen Gesellschaft: Herz, der „bis in sein hohes Alter hinein seine jungen Vollblüter im Tiergarten tummelte“, Mendelssohn als Spross der berühmten Familie ein Repräsentant der Welt von Wirtschaft und Kultur in unvergleichlicher Souveränität.

Eine andere Persönlichkeit, der Hertz’ besondere Sympathie gilt, ist der langjährige Syndikus Oscar Meyer – und auch er steht für die Geschichte der Kammer. Der Mann mit der typischen Biographie eines gebildeten, assimilierten Juden war 1904 in die Kammer eingetreten, in einer Zeit, in der es auch schon um die Ausdehnung der Ladenschlusszeiten ging. Allerdings – andere Zeiten, andere Begründungen – aus Sorge dafür, dass – da die Bälle erst um neun Uhr beginnen – „vergessliche Herren noch bis neun Uhr einen weißen Schlips oder einen Blumenstrauß zu kaufen bekommen“. Meyer, der als Mitglied der Deutschen Demokratischen Partei auch Abgeordneter in Land- und Reichstag war, musste 1933 Kammer und Land verlassen.

Es ist nicht der einzige Vorgang, der ein fatales Licht auf das Verhalten der Kammer gegenüber dem NS-Regime wirft. Es ist rundweg beschämend: Ein Auftritt einer NS-Gruppierung genügt, damit drei eben erst gewählte jüdische Vizepräsidenten entlassen werden, dazu weitere Mitarbeiter. Im gleichen Zug werden die beteiligten Nazis, durchweg subalterne Gestalten, eingestellt, der Präsident unterschreibt ohne Protest und bleibt im Amt, bis ein Präsident an seine Stelle tritt, der die Kammer auf NS-Kurs bringt, einschließlich „Führerprinzip“.

Hertz hält der Kammer immerhin zugute, es sei „nicht völlig unplausibel“, ihre Hinwendung zum NS-Staat mit dem Ringen um ihre Rolle und ihren Einfluss auf die Wirtschaft zu erklären. Aber bei der Verdrängung der Juden war sie „wenn auch nicht Verursacher, so doch (Mit-)Täter, zumindest aktiver Handlanger“. Ein Schatten davon fällt auch noch auf die Nachkriegszeit, ablesbar an Meyers Biographie: In der neuen IHK ist, so Hertz, „von ihm, soweit erkennbar, nicht die Rede, geschweige denn, dass es Ansätze für eine Wiedergutmachung gegeben hätte“; er bleibt, gebrochen, in der Emigration. Es spricht für den Autor, dass er sein Buch den aus der Kammer vertriebenen jüdischen Mitgliedern und Mitarbeitern gewidmet hat.

Mit der Nachkriegszeit nähert sich das Buch einer fleißig aus einer Fülle von Protokollen, Berichten und Stellungnahmen herausgeschälten Chronik. Bis auf die Anfänge. Da gibt es die berühmten Männer der ersten Stunde, an ihrer Spitze der spätere Hauptgeschäftsführer Bernhard Skrodzki, der fast im fliegenden Wechsel vom Mitarbeiter in der Wirtschaftsorganisation des Dritten Reiches zum Kämpfer für eine unabhängige, von Unternehmern getragene IHK wird. Und nochmals ein Kapitel Statusstreit und Interessengegensätze: Denn die Wiedererrichtung muss gegen Pläne für eine politisch akzentuierte Wirtschaftskammer durchgesetzt werden, die auch gegründet wird, aber an den West-Allierten scheitert. Die Unternehmer helfen im Hintergrund nach, „undemokratisch vielleicht“, wie Hertz schreibt, „aber wirksam“. Währenddessen bricht Berlin auseinander, fliegen über der Stadt die Rosinenbomber. Erst 1950 wird die IHK wiedergegründet.

In den folgenden Jahrzehnten spiegelt die Kammer-Arbeit getreulich die Gratwanderung, die der Wirtschaftsstandort Berlin zu absolvieren hatte. Hertz zeichnet ihr Auf und Ab nach – die Wiederaufbauphase in den 50er Jahren, die Krisen von Chruschtschow-Ultimatum 1958 und Mauerbau 1961, auch die „fetten Jahre“ Mitte der 60er Jahre. Es ist die Zeit der Berlin-Beauftragten, der Berlin-Konferenzen und der Debatten um die Berlin-Hilfe, des Streits um die Teilnahme West-Berliner Firmen an Ost-Messen und den Umgang mit der DDR. Und obwohl Politik und IHK im gleichen Boot sitzen, hört man doch heraus, wie oft sich die auf ihre Neutralität pochende Kammer an der Politik reibt – gerade auch am Regierenden CDU-Bürgermeister Eberhard Diepgen, erst recht und dramatisch am rot-grünen Senat unter Walter Momper.

Die letzten Abschnitte des Buches rücken die Fortschritte und Nackenschläge ins Gedächtnis, die die Wiedervereinigung begleitet haben. Es ist, gerade aus der IHK- Sicht, ziemlich viel Achterbahn dabei: Abbau der Berlin-Förderung, das Scheitern der Fusion von Berlin und Brandenburg, die wirtschaftliche Eintrübung in den späten 90er Jahren, die haarscharf am Desaster vorbeigehende Errichtung des neuen Kammer-Gebäudes, des „Gürteltiers“ in der Fasanenstraße. Dass das Buch, das einen sachlich-nüchternen – im Wortsinne – Kammerton kultiviert, die Kammer für eine wichtige Institution hält, verwundert beim früheren Amte seines Autors nicht. Dank der Akribie, mit der es den Blick auf eine Geschichte richtet, die sonst im Schatten der Haupt- und Staatsaktionen steht, gelingt es ihm, auch den Leser davon zu überzeugen.

Thomas Hertz, „Die Industrie- und Handelskammer zu Berlin. Ein Beitrag zur Wirtschaftsgeschichte Berlins“, Walter de Gruyter, 2008, 488 Seiten, 28 Euro

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