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Wirtschaft: Der Anleiter

Lehrer für Kinder mit Behinderung haben sehr gute Aussichten auf eine Stelle. Doch die Anforderungen sind hoch – und die Studienplätze rar

Wer Sonderpädagogik studiert, muss sich nach seinem Abschluss keine Sorgen machen, arbeitslos zu werden. Lehrer für Kinder mit Behinderungen sind gefragt wie nie. Allein in diesem Jahr hat Berlin 1160 unbefristete Vollzeit-Stellen für Sonderpädagogen geschaffen. Und auch in den nächsten Jahren sind die Perspektiven laut Berliner Senatsverwaltung unverändert gut – vor allem für Lehrer, die sich auf Lernbehinderung oder Verhaltensstörung spezialisiert haben.

Doch die Anforderungen an den Beruf sind hoch – und auf dem Weg in den Job sind einige Hürden zu überwinden.

DER BERUF

Wie der Arbeitsalltag aussieht, weiß Jürgen Heuel. Er ist Landesvorsitzender des Verbandes Sonderpädagogik (vds) und Direktor der „Schule an der Victoriastadt“ in Lichtenberg. Die Einrichtung vereint unter einem Dach Grundschule und sonderpädagogisches Förderzentrum.

Eine Klasse besteht, je nachdem, welchen Förderbedarf die Schüler haben, aus etwa acht bis 14 Kindern, erklärt er. Wenn er in den Unterricht geht, hat er selten nur den Unterrichtsplan A, sondern meist noch einen Plan B und C im Gepäck. Weil er nie weiß, ob er umschwenken muss, etwa weil er zuerst einen Konflikt zu lösen hat. „Meine Schüler kommen oft aus benachteiligten Familien“, sagt er. Er müsse sehr aufmerksam sein, um schon beim Betreten des Klassenzimmers zu sehen, in welcher Verfassung seine Schüler an diesem Tag sind.

In gewisser Weise könnte man Jürgen Heuel und seine Kollegen mit Schneidern vergleichen, die jedem Schüler ein eigenes Kleid nähen – weil ihnen die Konfektionsware nicht so richtig passt. „Das zu vermittelnde Wissen wird auf jedes einzelne Kind zugeschnitten“, sagt Jürgen Heuel. Wenn die Kinder in Biologie etwas über Igel lernen, bekommt jedes von ihnen einen eigenen Umschlag mit maßgeschneiderten Aufgaben: Bei einem ist der Informationstext länger, beim anderen kürzer, beim Dritten stehen nur kleine Bilder auf dem Zettel, der Vierte bekommt eine Audio-CD. Das alles vorzubereiten ist Aufgabe des Lehrers.

Wer Sonderpädagoge werden will, sollte neben den fachlichen Fähigkeiten eine gewisse Lebenserfahrung mitbringen und im Team arbeiten können. „Außerdem sollte man ein Meister darin sein, zu individualisieren“, sagt Heuel. Sonderpädagogen müssten herausfinden, was das einzelne Kind brauche, und für jeden Schüler die Rahmenbedingungen schaffen, unter denen dieser am besten lernen kann. „Das erfordert diagnostisches Können.“

Auch das macht für ihn den Reiz seiner Arbeit aus: Als Sonderpädagoge müsse er nicht, wie seine Kollegen an Regelschulen, durch die Lehrpläne hetzen. Für jeden Schüler werde ein individueller Förderplan entworfen. Dadurch habe er großzügigere Zeitressourcen und mehr Möglichkeiten, sich dem einzelnen Schüler zuzuwenden. Der Kontakt zwischen einem Sonderpädagogen und seinen Schülern sei sehr intensiv. Und die Schüler geben sehr viel zurück, sagt Heuel: „Wenn Kinder, die es schwerer haben, einen Lernerfolg erzielen, ist das sehr schön.“

Doch der Job hat auch eine andere Seite. Wie in allen „Helferberufen“ müssen Sonderpädagogen aufpassen, dass sie nicht ausbrennen, dass sie etwa die Schicksale der Schüler nicht zu nah an sich heranlassen und dass sie sich nicht selbst aus dem Blick verlieren, wenn sie jedem Kind die bestmögliche Betreuung zu geben versuchen. Man müsse lernen, nach der Arbeit und in den Ferien abzuschalten, sagt Heuel.

DIE AUSBILDUNG

Martin Muschick hat sein Studium hinter sich. In der kommenden Woche beginnt der 32-Jährige an der Marianne-Cohn- Schule, einem Förderzentrum mit dem Schwerpunkt „geistige Entwicklung“, seinen Lehrer-Vorbereitungsdienst, auch Referendariat genannt.

Muschick hat sich nach seinem Zivildienst an einer Schule für Körperbehinderte dazu entschlossen, Sonderpädagoge zu werden. „Die Lehrer an der Schule haben mich sehr beeindruckt“, sagt er. Eine Rolle hat dabei sicher auch gespielt, dass er einen Bruder mit geistiger Behinderung hat. „Deshalb hatte ich gegenüber behinderten Menschen kaum Berührungsängste.“ Auch viele seiner Kommilitonen hatten im familiären Umfeld Erfahrungen mit behinderten Menschen. „Oder ihre Eltern waren Sonderpädagogen“, erinnert er sich.

Wer sich für das Studienfach Sonderpädagogik entscheidet, braucht Geduld – oder einen guten Abi-Schnitt. Denn obwohl Sonderpädagogen bundesweit händeringend gesucht sind, werden etwa am Institut für Rehabilitationswissenschaften der HU zum kommenden Wintersemester nur 75 Studierende zum Bachelorstudiengang „Rehabilitationswissenschaften mit Lehramtsoption“ zugelassen. Die Mitbewerber sind zahlreich. Allein 2008 haben sich 691 Abiturienten für den Studiengang beworben.

Etwa 60 Prozent der Studienplätze werden nach Numerus clausus (NC) vergeben, der Rest nach Wartesemestern. Beide Kriterien werden aber nicht miteinander verrechnet. Nur ein guter NC oder viele Wartesemester lassen den Studienplatz in greifbare Nähe rücken.

Bei der Einschreibung entscheidet man sich für zwei sonderpädagogische Fachrichtungen – zum Beispiel für die Förderschwerpunkte emotional-soziale oder geistige Entwicklung, für die Schwerpunkte körperliche und motorische Entwicklung oder Hören, Lernen, Sehen und Sprache. Diese werden kombiniert mit einem Zweitfach, etwa Deutsch oder Mathematik. Martin Muschick entschied sich für die Förderschwerpunkte geistige sowie körperliche und motorische Entwicklung plus Germanistik. Nach dem Examen verfasste er zunächst eine Doktorarbeit in der Altgermanistik.

Das Studium an der HU startet jeweils zum Wintersemester und schließt ab mit dem Bachelor (nach sechs Semestern) und dem „Master of Education“ (nach drei weiteren Semestern). Darauf folgt das einjährige Referendariat, das mit einer Prüfung endet. Wer bis dahin durchhält, den erwartet nicht nur ein spannender wie anspruchsvoller Job, sondern auch eine gute Bezahlung. Eine sonderpädagogisch ausgebildete Lehrkraft verdient im Land Berlin derzeit knapp 3200 Euro monatlich im Westen, 3000 Euro Osten Brutto-Grundgehalt.

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