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Eine Neuverhandlung des Koalitionsvertrags ist notwendig, sagt Marcel Fratzscher vom DIW.

© Daniel Naupold/dpa

Der Staat muss Schulden machen!: Die schwarze Null schützt nicht die künftigen Generationen

Klimaschutz, Digitalisierung, Bildung: Für die offensichtlichen Probleme braucht es jetzt massive Investitionen. Ein Gastbeitrag des DIW-Präsidenten.

Der Ökonom Marcel Fratzscher ist Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW). Zudem hat er eine Professur für Makroökonomie an der Humboldt-Universität in Berlin.

Das Hinterfragen der schwarzen Null durch Finanzminister Olaf Scholz könnte einen wichtigen Richtungswechsel der Bundesregierung ankündigen oder den Konflikt der großen Koalition weiter anheizen. Selten war die politische Unsicherheit über die Handlungsfähigkeit einer Bundesregierung größer als heute.

Die Wahl von zwei Groko-skeptischen Außenseitern zu SPD-Parteivorsitzenden, Unruhen und Machtrangeleien innerhalb der CDU und rekordniedrige Zustimmungswerte zur großen Koalition in den Umfragen führen deutlich vor Augen, dass ein Weiter so der Regierung nicht möglich sein wird.

Aber unabhängig vom Zustand der Koalitionsparteien hat sich das politische, soziale und wirtschaftliche Umfeld für Deutschland in den vergangenen zwei Jahren so massiv verändert, dass eine Neuverhandlung des Koalitionsvertrags ohnehin nicht nur wünschenswert, sondern dringend notwendig ist.

Die Leistung der Großen Koalition ist sicherlich besser als ihr Ruf. Sie hat zahlreiche gute Maßnahmen in den Bereichen Soziales, Bildung, Innovation, Rente und Industriepolitik umgesetzt. Überlagert durch die parteiinternen Querelen hat sie jedoch ihre Erfolge denkbar schlecht kommunizieren können. Zur Wahrheit gehört aber auch, dass sich in den vergangenen zwei Jahren viele Rahmenbedingungen grundlegend verändert haben.

Hausgemachte strukturelle Probleme wurden unterschätzt

Eine dieser Änderungen ist der wirtschaftliche Absturz Deutschlands seit Anfang 2018. Damals ging man noch von 2,5 Prozent Wirtschaftswachstum aus, in diesem Jahr konnte die deutsche Wirtschaft einer Rezession nur knapp entgehen. Die Eskalation der globalen Handelskonflikte, eine schier endlose Brexit-Hängepartie und eine schwächelnde Weltwirtschaft haben die von Exporten abhängige deutsche Wirtschaft hart getroffen.

Hinzu kommen viele hausgemachte strukturelle Probleme, die vor zwei Jahren stark unterschätzt wurden. So ist aus heutiger Sicht klar, dass der so wichtigen deutschen Automobilbranche keine zehn Jahre Zeit mehr für ihre Transformation hin zur Elektromobilität und zum autonomen Fahren bleiben, sondern deutlich weniger, und dass sie dafür schlecht vorbereitet ist.

Auch Sozialsysteme brauchen grundlegende Reformen

Unternehmen in fast allen Branchen klagen über unzureichende Rahmenbedingungen für Investitionen. Eine mangelhafte digitale Infrastruktur, ein zunehmender Fachkräftemangel, falsche Regulierung und eine ineffiziente Bürokratie stellen sich als viel höhere Hürden für die Wirtschaft dar, als es viele eingestehen wollen.

Hinzu kommt ein wachsendes Bewusstsein, dass es im Kampf gegen den Klimawandel nicht nur kleinerer Anpassungen, sondern eines rigorosen Systemwechsels mit enormen Investitionen bedarf. Eine steigende Alters- und Kinderarmut, explodierende Mietpreise und eine zunehmende soziale Polarisierung zeigen, dass auch die Sozialsysteme grundlegende Reformen brauchen, die keinen Aufschub erlauben.

Die Probleme sind offensichtlich, die Lösungen liegen auf der Hand

Zwar kann man zu Recht monieren, dass viele dieser Herausforderungen bereits vor zwei Jahren bekannt waren, aber richtig ist auch, dass ihre Dringlichkeit unterschätzt wurde. Dies unterstreicht aber nur die Notwendigkeit, die Arbeit der großen Koalition, wenn nicht zu beenden, dann unbedingt neu auszurichten.

Dafür muss die Bundesregierung aber Mut beweisen und alte Dogmen über Bord werfen. Denn die Zukunftsherausforderungen – von Klimaschutz über digitale Transformation bis hin zur Stärkung von Bildung, Innovation und den Sozialsystemen – erfordern ein großes, langfristig angelegtes Investitionsprogramm, das nach Berechnungen vieler Experten zwischen 30 und 45 Milliarden Euro jährlich an öffentlichen Investitionen erfordert.

Die Probleme sind offensichtlich, die Lösungen liegen auf der Hand und – dies ist die gute Botschaft – die Bundesregierung hat alle Voraussetzungen, vor allem die Finanzierungsmöglichkeiten, um ein solches Programm umzusetzen.

 Endlich mit Dogma schwarzer Null brechen

Für eine Bestandsaufnahme und Neuausrichtung darf es keine Tabus geben, und alle müssen kompromissbereit sein. Dazu gehört eine steuerliche Entlastung von Unternehmen ebenso wie die Bekämpfung des Niedriglohnsektors. Und es erfordert, dass die Bundesregierung endlich mit ihrem Dogma der schwarzen Null bricht.

Es ist scheinheilig zu behaupten, die schwarze Null schütze künftige Generationen – genau das Gegenteil ist der Fall. Den meisten jungen Menschen sind die Staatsschulden weniger wichtig als eine intakte Umwelt, sozialer Frieden, gute Jobs und klare Zukunftsperspektiven. Dies völlig zu Recht. Die Bundesregierung wird 2020 zwölf Milliarden Euro als Zinsen für ihre Schulden – Tendenz deutlich fallend –, aber 150 Milliarden Euro für soziale Leistungen zahlen.

Eine Politik, die den Menschen eine bessere Chance gibt, Eigenverantwortung zu übernehmen, die somit letztendlich auch die Wirtschaft stärkt und die Sozialausgaben entlastet, ist klüger als ein Festhalten an der schwarzen Null. Dies würde eine mehr schlechte als rechte Verwaltung des Status quos bedeuten. Erst wenn dieses und andere Dogmen bei Klimaschutz und Digitalisierung fallen, hat die große Koalition eine Zukunftschance.

Marcel Fratzscher

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