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Wirtschaft: Der Wachstumsmacher

Alan Greenspans Ruf als US-Notenbankchef ist legendär – doch seine Logik versteht fast niemand

Im September 1996 stellte sich Alan Greenspan gegen die Mehrheit der US-Regionalbankchefs und lehnte trotz robuster Konjunktur und inmitten von Inflationsängsten eine Zinserhöhung ab. Der Chef der US-Notenbank (Fed) vertraute lieber eigenen Analysen statt düsteren Regierungsstatistiken zur Entwicklung der Produktivität. Die Geschichte gab ihm Recht: Mit ihrem Verzicht auf die Zinssteigerung legte die Fed den Grundstein für solides Wachstum und historisch niedrige Arbeitslosenzahlen. „Andere Zentralbanken wären längst eingeschritten“, sagt der Nobelpreisträger Robert Solow, Wirtschaftswissenschaftler am Massachusetts Institute of Technology. „Greenspan aber hat sich den üblichen Lehrmeinungen nie gebeugt.“

Seit 17 Jahren gelingt es dem inzwischen 78-jährigen Greenspan, die US-Wirtschaft geschickt zu manövrieren. Dabei helfen ihm vor allem ein äußerst komplizierter Cocktail von Wirtschaftsdaten und die Bereitschaft, konventionelle Theorien über Bord zu werfen. In einer Zeit, da Ökonomen immer stärker von mathematischen Modellen getrieben werden und Politiker von Dogmen, wehrt sich Greenspan gegen beides.

Kaum einer kennt die Logik hinter seinen Entscheidungen. In seine Zinspolitik hat Greenspan so manches einfließen lassen: Rückzahlungen auf Baukredite, die sechs Jahre im Voraus prognostizierte Entwicklung der Ölpreise, Lieferengpässe bei Kommunikationstechnik und die Unzufriedenheit der Arbeiter.

Nach den Regeln der Fed endet Greenspans Amtszeit unweigerlich im Januar 2006. „Wenn sein Nachfolger die Schublade für die Geheimrezepte öffnet, wird er darin nichts finden“, sagt Alan Blinder, ein ehemaliger Gouverneur bei der US-Notenbank. „Sämtliche Geheimnisse sind in Greenspans Kopf.“

Einen Teil seines Erfolges verdankt Greenspan seinem Amtsvorgänger Paul Volcker, der in den frühen 80er Jahren mit durchdachter Geldpolitik die Inflation im Zaum gehalten hatte. Daneben kamen ihm die technologischen Entwicklungen und die Umwälzungen des Finanz- und des Arbeitsmarktes während seiner Amtszeit entgegen. Greenspans Verdienste summieren sich zu einer beeindruckenden Serie, die auch die Stärke der US-Wirtschaft im Vergleich zu anderen Volkswirtschaften erklärt.

Eine erste Kostprobe seines einzigartigen Gespürs gab er 1994, als er die Leitzinsen in einem Zug um ganze 0,75 Prozentpunkte anhob, weil die US-Wirtschaft zu überhitzen drohte. Da die zuvor erfolgten allmählichen Steigerungen nicht anschlugen, stand die Fed vor der schwierigen Aufgabe, das Tempo drosseln zu müssen, ohne den Motor der Konjunktur abzuwürgen. Große Zinsschritte erhöhen die Gefahr einer harten Ladung, bei der die Wirtschaft – von hohen Kapitalkosten erdrückt – in Rezession und steigende Arbeitslosigkeit fällt. Ein zu vorsichtiges Vorgehen könnte dagegen anzeigen, dass die Fed nicht in der Lage ist, die Inflation aufzuhalten. Laut Greenspan würde dann eine Flucht in den Dollar und in Anleihen einsetzen, alles zum Nachteil der Aktienkurse.

Trotz der Vorwürfe, die Notenbank würde mit dem massiven Zinsschritt überreagieren, sollte Greenspan Recht behalten: Die Investoren sahen ihr Vertrauen bestätigt, dass die Fed die Inflation unter Kontrolle hat. In der Folge verbilligten sich die langfristigen Anleihen, und der Aktienmarkt wurde gestärkt. Mit der weichen Landung schaffte Greenspan die Basis für einen sechsjährigen Rekordaufschwung in den USA. „Dieser erstaunliche Erfolg brachte dem ohnehin hoch respektierten Notenbankchef den Ruf des makroökonomischen Zauberers ein“, sagt Ex-Notenbanker Blinder.

Im September 1996 ließen die anhaltend niedrigen Arbeitslosenzahlen dann den Ruf nach Zinserhöhungen laut werden. Nach den herkömmlichen Wirtschaftstheorien stand ein Anstieg der Inflation unmittelbar bevor, da die Arbeitgeber dem raren Personal immer mehr zahlen müssten und die Mehrkosten an die Verbraucher weiterreichen würden. Nicht so für Greenspan, der auf Reserven in der Produktivität der Arbeitskräfte vertraute: Schon die Elektrifizierung der Industrie führte nicht unmittelbar zu Effektivitätssteigerungen, weil die Arbeitsprozesse sich erst über eine längere Zeit anpassen mussten. Auch die Einführung der Computertechnik in den 80er Jahren würde sich daher nur verzögert in den Produktivitätszahlen bemerkbar machen, dachte Greenspan. Aus gestiegenen Technik-Käufen, verbunden mit höheren Gewinnen der Besteller, folgerte er, dass den Unternehmen erst jetzt die Früchte der Technisierung zufließen würden. Damit könnten sie erstmals mehr produzieren, ohne neues Personal einzustellen. Und wieder gaben die späteren Zahlen dem Chefbanker Recht: Die erhöhte Effektivität schob das Wachstum an, ohne Anstieg der Inflation. „Greenspan hatte es vor uns allen erfasst“, schrieb Laurence Meyer, einer der damaligen Fed-Gouverneure, die sich zunächst für die Zinserhöhung eingesetzt hatten.

Bisweilen lag Greenspan auch falsch. So überschätzte er den Wert der Technologie-Investitionen, was nach Meinung einiger Kritiker zu den überhöhten Aktienkursen der späten 90er Jahre führte. Der Irrtum zeigte sich mit Einsetzen der Krise: Viele der vorausgesagten Gewinne blieben aus, teure Investitionen lagen brach.

Charakteristisch für Greenspan war auch seine Entscheidung, der Kursexplosion an den Börsen von 1998 tatenlos zuzusehen. Die von ihm bevorzugte Alternative: den Absturz hinnehmen und durch Zinssenkungen abfedern. Allein im Krisenjahr 2001 hat die Fed die Zinsen in neun Schritten gesenkt ist und inzwischen bei einem Zinsniveau von einem Prozent angekommen – dem niedrigsten Stand seit 45 Jahren. Die Wirtschaft scheint das vor einer Rezession bewahrt zu haben. Experten warnen jedoch vor einem beängstigenden Ansteigen von Verbraucherverschuldung, Grundstückspreisen und Auslandsschulden. „Das ist ein schwelender Brand, den Greenspan bei der Arbeit an seinem Lebenswerk noch löschen muss“, sagt der Wall-Street-Veteran Henry Kaufman.

Greg Ip[Washington]

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