zum Hauptinhalt

Wirtschaft: „Die Sonderwirtschaftszone ist nur ein Schlagwort“

Der Präsident des Bundesarbeitsgerichts, Hellmut Wißmann, über den Schutz der Arbeitnehmer, Flexibilität und differenzierte Tarifverträge

Herr Wißmann, in Deutschland haben wir zwar ein arbeitnehmerfreundliches Arbeitsrecht, aber leider keine Arbeitsplätze mehr. Sind Sie dafür mitverantwortlich?

Ich bin Arbeitsrichter und kein Ökonom. Wenn Unternehmen ins Ausland gehen, hat das betriebswirtschaftliche Gründe, die ich als Richter nicht beurteilen kann. Unsere Aufgabe ist es, die einschlägigen rechtlichen Vorschriften richtig anzuwenden.

Im Ausland können Arbeitgeber ihre Mitarbeiter leichter entlassen. Deshalb sind sie auch eher bereit, jemanden neu einzustellen. Würden nicht auch bei uns mehr Jobs entstehen, wenn der Kündigungsschutz gelockert würde?

Es ist ein Irrglaube, dass im Ausland die Arbeitsverhältnisse nicht geschützt sind. In fast allen entwickelten Ländern gibt es irgendwelche rechtlichen Regeln. Wir haben das Kündigungsschutzgesetz, das Arbeitnehmer vor dem Verlust ihres Arbeitsplatzes schützen soll. In anderen Ländern müssen Arbeitgeber Abfindungen zahlen, wenn sie kündigen. Außerdem haben wir eine hohe Fluktuation auf dem Arbeitsmarkt. In Deutschland gibt es weit über eine Million Kündigungen im Jahr. Von denen gehen die meisten unproblematisch durch; nach neuen Untersuchungen kommt es nur in weniger als 20 Prozent der Fälle zu einer Abfindung.

Seit Jahresanfang gilt das neue Kündigungsschutzgesetz, das Kündigungen in Kleinbetrieben erleichtert. Sollte man diese Regelung nicht auf alle Unternehmen übertragen, um neue Arbeitsplätze zu schaffen?

Ob das neue Kündigungsschutzgesetz wirklich neue Arbeitsplätze bringt, bleibt abzuwarten. Mit dem neuen Gesetz wollte die Regierung aber auch nicht die Fluktuation auf dem Arbeitsmarkt vergrößern. Sie wollte vielmehr kleinen Betrieben die Furcht davor nehmen, dass sie jemanden einstellen und den neuen Mitarbeiter nicht mehr entlassen können, wenn die wirtschaftliche Lage schlechter wird. Das hat viel mit Psychologie und damit zu tun, dass sich kleinere Unternehmen in unserer komplexen Rechtsordnung oft nur schwer zurechtfinden.

Was halten Sie von Sonderwirtschaftszonen mit gelockertem Kündigungsschutz?

Die Sonderwirtschaftszone ist bisher nur ein Schlagwort. Wie eine solche Zone praktisch aussehen könnte, wird nicht näher gesagt. Mit Blick auf das Arbeitsrecht bräuchte man solche Sonderzonen nicht. Wir haben schon jetzt zwischen den Branchen und Regionen sehr starke Differenzierungen. Gerade im Osten Deutschlands gibt es gewichtige Besonderheiten, etwa ein anderes Tarifniveau. Allgemein enthalten Tarifverträge heute zahlreiche Öffnungsklauseln, die Betrieben ein hohes Maß an Flexibilität erlauben.

Viele Leute wünschen sich auch in ihrem Alltag mehr Flexibilität. Haben Sie Verständnis dafür, wenn private Haushalte Putzfrauen oder Babysitter schwarz beschäftigen?

Nein, absolut nicht. Wir Richter müssen darauf achten, dass die Spielregeln eingehalten werden. Wer jemanden schwarz beschäftigt, spart Geld auf Kosten der Allgemeinheit. Aber Sozialabgaben und Steuern gehen doch nicht ins Leere, sondern dienen zum Beispiel dazu, dass die Arbeitnehmer die erforderliche Alters- und Gesundheitsvorsorge bekommen. Mit den Steuern werden zum Beispiel Straßen gebaut. Wir alle erwarten doch, dass es Straßen gibt, auf denen wir fahren können. Wir müssen alle etwas abgeben, damit die Gesellschaft funktioniert.

Kann zu viel Schutz nicht auch nach hinten losgehen? Schwangere werden vom Gesetz besonders geschützt, deshalb stellen viele Arbeitgeber junge Frauen gar nicht erst ein.

Dass junge Mütter besonders geschützt werden, finde ich richtig. Natürlich muss ein Arbeitgeber, der eine junge Frau einstellt, damit rechnen, dass diese schwanger werden und ausfallen könnte. Aber ausfallen können doch auch andere Arbeitnehmer, etwa durch Ereignisse im Privatleben wie Sportunfälle. Im Übrigen gibt es Umlageverfahren, die solche Belastungen zwischen den Betrieben ausgleichen.

Unterstützt das Arbeitsrecht die Bildung von Kartellen der Arbeitgeber und Arbeitnehmer, die verhindern, dass Arbeitslose einen Job bekommen?

Die Aufgabe des Arbeitsrechts liegt darin, einen Ausgleich zwischen den Interessen der Arbeitgeber und der Arbeitnehmer zu schaffen. Das Arbeitsrecht kann nicht auf die Interessen Dritter außerhalb dieses Arbeitsverhältnisses ausgerichtet sein.

Also bevorzugt das Arbeitsrecht die Arbeitnehmer?

Das Arbeitsrecht hat natürlich einen deutlichen Arbeitnehmerschutz-Charakter. Das normale Vertragsrecht, das von zwei gleich starken Vertragspartnern ausgeht, passt nicht auf Arbeitsverhältnisse. Das Bundesverfassungsgericht spricht von der strukturellen Unterlegenheit der Arbeitnehmer. Arbeitgeber sind in einer stärkeren Verhandlungsposition, daher brauchen die Arbeitnehmer Schutz. Das ist überall so, auch in den Ländern, die jetzt der EU beigetreten sind.

Geht der Schutz nicht zu weit?

Das lässt sich so pauschal weder bejahen noch verneinen. Wir Richter haben das geltende Recht anzuwenden. Wir dürfen nicht darauf schauen, ob uns das Ergebnis politisch oder ökonomisch passt.

Aber in kaum einem anderen Bereich haben Richter so viele Freiheiten wie im Arbeitsrecht.

Das stimmt. Zunächst gibt es im Arbeitsrecht viele Generalklauseln, die von den Gerichten ausgelegt werden müssen. Das kennen wir aber auch aus anderen Rechtsgebieten. Allerdings kommt im Arbeitsrecht hinzu, dass viele Bereiche gesetzlich überhaupt nicht geregelt sind. Diese weißen Flecken müssen von den Arbeitsgerichten ausgefüllt werden. Das Arbeitskampfrecht zum Beispiel ist reines Richterrecht.

Brauchen wir ein Arbeitsgesetzbuch, das alle Arbeitsgesetze zusammenfasst und die weißen Flecken füllt?

Ein Arbeitsgesetzbuch haben schon die Väter des Bürgerlichen Gesetzbuchs gefordert. Das war 1896. Seitdem hat es immer wieder Anläufe für ein solches Arbeitsgesetzbuch gegeben, zuletzt im Einigungsvertrag. Wir wären froh, wenn es ein umfassendes Regelungswerk gäbe. Ein Arbeitsgesetzbuch könnte eine in sich geschlossene arbeitsrechtliche Konzeption schaffen. Dagegen kann das Bundesarbeitsgericht immer nur punktuelle Entscheidungen treffen – von Fall zu Fall.

Sind Arbeitsrichter anders gestrickt als andere Richter?

Arbeitsrichter haben bestimmt keine anderen Gene als sonstige Richter. Aber eine Besonderheit gibt es schon: Nach einigen Jahren ist man auf einen besonderen Typ von Konflikten geeicht. Arbeitsrichter entwickeln dabei Spezialkenntnisse und besondere Fähigkeiten, die man im Arbeitsrecht braucht.

Den Arbeitsgerichten wird nachgesagt, ein Sammelbecken für Alt-68er und Sozialromantiker zu sein.

Es gibt auch den gegenteiligen Vorwurf. Wenn Arbeitnehmer oder Gewerkschaften vor Gericht verlieren, heißt es, wir hätten kein Verständnis für den kleinen Mann. Verlieren die Arbeitgeber, heißt es, wir seien Linke, die kein Verständnis für Unternehmen haben. Aber jenseits der Propaganda genießen wir bei Verbänden auf beiden Seiten eine hohe Anerkennung.

Wer gewinnt häufiger vor dem Bundesarbeitsgericht – Arbeitnehmer oder Arbeitgeber?

In über drei Fünfteln der Fälle die Arbeitgeber. Allerdings erreicht nur eine begrenzte Zahl von Prozessen das Bundesarbeitsgericht. Jedes Jahr gibt es bei den Arbeitsgerichten zwischen 600000 und 700000 neue Fälle, davon landen zwischen 20000 und 25000 bei den Landesarbeitsgerichten. Nur 1700 bis 2000 kommen letztlich noch zu uns, von denen dann 750 bis 900 in vollem Umfang zu überprüfen sind.

Das Gespräch führte Heike Jahberg.

-

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false