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Wirtschaft: Ein Herz für die Industrie

Das verarbeitende Gewerbe interessierte die Berliner Politik bisher wenig. Auf einmal ist das anders

Berlin - „Ach, wäre doch immer Wahlkampf“, seufzt Dieter Pienkny vom Deutschen Gewerkschaftsbund. Ob SPD oder PDS, ob Grüne oder CDU – seit ein paar Wochen haben alle Berliner Parteien ihr Herz für die Industrie entdeckt. „Wir brauchen eine Stärkung des verarbeitenden Gewerbes“, sagt PDS-Wirtschaftssenator Harald Wolf. „Wir brauchen Manufaktur und Industrie“, sagt CDU-Spitzenkandidat Friedbert Pflüger.

Im realen Leben bietet die Stadt ein anderes Bild. CNH, BSH, Samsung, JVC: alles Unternehmen, denen es nicht gut geht oder die Berlin sogar den Rücken kehren wollen. Insgesamt 100 000 Arbeitsplätze hat die Hauptstadt seit den 90er Jahren im verarbeitenden Gewerbe verloren. Von Dienstleistungen, Multimedia und Tourismus war viel die Rede – von handfester Produktion mochte kaum einer sprechen.

Doch nun ist Wahlkampf. Die Einladung des DGB zu einer industriepolitischen Tour nahmen die Spitzenkandidaten der Parteien deshalb gerne an. Vor zwei Wochen waren Wolf und der Regierende Bürgermeister Klaus Wowereit dran, dann kam die Spitzenkandidatin der Grünen, Franziska Eichstädt-Bohlig, an diesem Dienstag nun zum Abschluss Friedbert Pflüger. Nur die FDP wollten die Gewerkschafter nicht dabei haben. „Wer alles dem Markt überlässt, braucht keine Industriepolitik“, sagt Tourleiter Dieter Scholz, hauptberuflich Landeschef des DGB.

Die erste Station der Reise ist der Lampenhersteller Osram. Das Unternehmen beschäftigt in Berlin 2000 Mitarbeiter und gehört damit zu den 20 größten industriellen Arbeitgebern der Stadt. Eigentlich eine perfekte Kulisse für den Wirtschaftssenator – aber Wolf und Wowereit sind keine Wahlkämpfer auf Augenhöhe.

Wowereit prescht nach vorne, alle Blicke richten sich auf ihn, an ihn wenden sich die Gesprächspartner von Osram. Wolf dagegen bleibt in der zweiten Reihe, immer einen Schritt hinter Wowereit. Während sich der Regierende praxisnah nach der Lebensdauer von Autolampen erkundigt, fragt der Senator trocken nach dem Marktanteil. Brav folgt Wolf einer Präsentation von Osram („Besseres Licht für mehr Lebensqualität“); zur gleichen Zeit gibt Wowereit auf dem Werkshof ein Fernsehinterview.

Im Eilschritt geht es vorbei an Hochdruckentladungslampen, Versuchsfeldern für Quarzlampen und einem 250-Watt-Keramik-Brenner. Fachgespräche, technische Details – schwere Kost für einen Wahlkämpfer. Am Ende des Rundgangs entdeckt Wowereit auf dem Werksgelände ein gigantisches Werbeplakat mit der Aufschrift „100 Jahre Osram“. „Oh, da können wir doch mal posieren“, ruft er und drängt die Anwesenden zum Gruppenfoto.

Fotoverliebt ist auch CDU-Kandidat Pflüger. Seine Tour führt ihn zur Königlichen Porzellan-Manufaktur (KPM), dem ältesten Gewerbebetrieb der Stadt. Keine Vase, keine Schale, an der Pflüger ohne Foto vorbeigehen könnte. Einmal hebt er ein besonders wertvolles Stück – einen Teller für mehrere tausend Euro – hoch, lässt ihn im Scherz fallen und fängt ihn wieder auf. „Keine Sorge, ich halt ihn ganz, ganz fest“, versucht er Geschäftsführer Winfried Vogler zu beruhigen. Der greift sich nur an sein Herz.

Gegründet wurde die KPM 1751, im Februar 2006 kaufte sie der Bankier Jörg Woltmann. Ob sich die Arbeit seit der Privatisierung geändert habe, fragt Pflüger eine Angestellte. „Es ist halt mehr geworden“, sagt sie. Woltmann grinst. 1992 waren bei KPM 500 Menschen beschäftigt, jetzt sind es noch 160.

Doch das ist heute nicht das Thema. Schließlich geht es um jede Stimme, und da zählen nur positive Botschaften. „An weiteren Personalabbau ist nicht zu denken“, versichert Geschäftsführer Vogler. Demnächst brauche man vielleicht sogar wieder mehr Leute. „Sehr richtige Einstellung“, lobt Pflüger. Ginge es nach den Wahlkämpfern, müsste die Berliner Industrie blendend dastehen.

Stärke zeigen, sich größer machen als man ist – auch das ist Wahlkampf. Über Probleme spricht man da lieber nicht. Meister auf diesem Gebiet ist Amtsinhaber Wowereit. Wenn jemand doch einmal kritische Punkte anspricht, hält er sich zurück. Zum Beispiel, wenn der Geschäftsführer von Visolux, einem Hersteller von Lichtschranken, darüber klagt, dass Berlin zwar als Kulturstadt beliebt sei, dass aber „die Ingenieure nach dem Studium lieber ins Schwabenland zum Geldverdienen gehen“.

Auf solche Einwände muss dann Wolf antworten. Etwas umständlich erklärt er, dass man die Außendarstellung Berlins verbessern müsse, und dass „wir kommunizieren müssen, wenn hier freie Arbeitsstellen bestehen“.

Wolf ist eben kein geborener Wahlkämpfer. Er spricht von „Kooperationsstrukturen“, einem „runden Tisch“, „Dialog“ und „Netzwerken“. Alles richtig, alles wichtig – und doch hören nur wenige zu. Schon bald ist das Gemurmel der Umstehenden lauter als die Stimme des Wirtschaftssenators.

Auf dem Rückweg im DGB-Bus sitzen Wolf und Wowereit nebeneinander, fast wie auf einer Klassenfahrt. Vor dem Bus fährt ein Transporter der IG Metall, aus dem Fenster wehen rote Fahnen. „Aktiv für die Industrie in Berlin“, steht auf der Hecktür. „Ich hoffe, die Botschaft ist angekommen“, sagt DGB-Chef Scholz.

Berlin, Seite 10

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