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US-Finanzkrise: Ein Tag der Wahrheiten

Hat in dieser Finanzkrise der Markt versagt? Oder war es der Staat, der zu lange und zu wenig engagiert auf Transparenz und Regulierung des Finanzsystems drang. Der Bundestag diskutiert über die Folgen der Bankenkrise – und so manch einer denkt da an Karl Marx.

Von Antje Sirleschtov

Nein, die Sache mit Oskar war nur eine Wahrheit, der die Abgeordneten des Bundestages am Donnerstag ins Auge zu blicken hatten. Allerdings eine nicht ganz unwichtige in dieser Finanzkrise, zu der Peer Steinbrück (SPD) in einer Regierungserklärung sprach.

Es war kurz nach 11 Uhr, als sich der bayerische SPD-Abgeordnete Ludwig Stiegler ganz persönlich an seinen Vorredner von der Linksfraktion wandte und zum Ausdruck brachte, was seine Partei seit fast zehn Jahren belastet. Nämlich das Wissen darum, dass ihr mit Oskar Lafontaine ein Mann von großer politischer Kraft, allerdings von zweifelhaftem Charakter von der Stange gegangen ist. Einer, der in den Geschichtsbüchern auftaucht als erster Finanzminister der rot-grünen Bundesregierung, der Ende der Neunziger in Amerika auf die Regulierung des globalen Finanzmarktes drängte – dieses Marktes, der nun, zehn Jahre später, ungezähmt die ganze Weltwirtschaft in eine Krise zerrt.

Damals, als Deregulierung und Liberalismus noch Zauberwörter des Wohlstandes waren, haben sie Lafontaine mit seiner Regulierungsidee als sozialistischen Utopisten verlacht. In Washington und auch im Bonner Kanzleramt. Heute zeigt er mit dem Finger auf sie und ruft: „Ihr (Genossen von gestern) seid an der Krise doch selber schuld“. „Oh, Oskar“, stöhnt es da aus Ludwig Stiegler heraus, „du hättest ein großer mächtiger Mann sein können. Wenn Du nicht schon beim ersten Windzug abgehauen wärst.“

Auch Wahrheit Nummer zwei hat – wie das bei Wahrheiten oft so ist – zwei Seiten: Hat in dieser Finanzkrise der Markt versagt, wie es der Sozialdemokrat Steinbrück und auch die Redner von der Union behaupten? Oder war es der Staat, der zu lange und zu wenig engagiert auf Transparenz und Regulierung des Finanzsystems drang. Das zumindest glaubt Hermann Otto Solms, der FDP-Finanzexperte, wenn er die amerikanische Regierung anklagt, nichts dagegen unternommen zu haben, dass gierige Finanzstrategen erst tausenden Habenichtsen Häuser ohne Eigenkapital verkauft, die ungedeckten Kredite dann zerstückelt und diese undurchsichtigen Finanzprodukte auf dem Markt verhökert hätten. „Irgendwann“, sagt Solms, „musste das ja zusammenbrechen“. Eine Erklärung des Liberalen, die pikanterweise nah bei der Wahrheit des vorgenannten Oskar liegt.

Auch Steinbrück selbst griff an diesem Donnerstag tief in die Wahrheitskiste: „Diese schwerste Finanzkrise seit Jahrzehnten wird weitreichende Folgen auch für Deutschland haben“, sagte er. Und die Wall Street – das Bollwerk des Kapitalismus’ – „wird nie wieder so sein wie zuvor“. Bankenzusammenbrüche, Milliarden-Vernichtung und eine unvorstellbare Verunsicherung in der Welt: Für den Finanzminister kann es daraus nur eine Lehre geben: „ein neues internationales Regelsystem, um die Finanzmärkte zu zivilisieren“. Angefangen vom Verbot bestimmter Geschäfte außerhalb der Bilanzen sowie rein spekulativer Leerverkäufe über mehr Liquiditätsvorsorge, eine stärkere persönliche Haftung von Finanzmanagern bis hin zu international besser abgestimmten Kontrollsystemen.

Angela Merkel, die Kanzlerin, hat während des einstündigen Vortrages oft und deutlich mit dem Kopf genickt. Nur, als Steinbrück zur Erklärung der Finanzkrise sagte, hier sehe man, wie sich „ein System, das maßlose Übertreibungen ermöglicht und geduldet hat, letztlich selbst aufhebt“, sah Merkel auf einmal ganz verdutzt nach vorne. Irgendwie kam ihr das wohl bekannt vor. Mit dieser dialektischen Wahrheit nämlich – vom Umschlag der Quantitäten in eine neue Qualität – hat sich schon in grauen Vorzeiten ein Mann namens Karl Marx befasst.

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