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Wirtschaft: Geb. 1958

Ralf Kochanke

Ralf Kochanke

Ach du Scheiße, Ralle!“, hieß es immer, wenn Ralle aufkreuzte. Und ständig kreuzte Ralle auf. Überall, wo seine Musikerfreunde mit ihren Bands spielten. Überall, wo die Musik laut und rockig war, stand Ralle plötzlich mittenmang: der kleine Typ mit den dunklen, langen Haaren, Deep-Purple-Stil. Mit seinen längs gestreiften Hosen und dem unverschämten Grinsen. „Ach du Scheiße, Ralle!“ Das war nicht böse gemeint, eher eine Feststellung. Dass man sich jetzt auf was gefasst macht. Dass es wieder heiter werden konnte mit dem liebenswerten Chaoten. Oder peinlich, mit der besoffenen Knalltüte, je nachdem.

Hatte Ralle einen bestimmten Alkoholpegel überschritten und war nicht eingeschlafen, dann konnte er ganz schön nerven. Dann wurde er gerne mal pampig, beschimpfte seine Umwelt, schüttete jemandem, den er nicht leiden konnte, sein Bier über den Kopf. „Bist du das bayerische Mistvieh?“, sagte er von hinten zum Gitarristen, der neu war in Berlin. Da hat der Bayer sich umgedreht und Ralle kurz aus den Turnschuhen gebrettert. „Warum schlägste mich denn?“, fragte Ralle da, ganz unschuldig, fast rührend. „Kennste mich denn nich? Ick bin doch der Ralle!“

„Der Ralle“ zu sein, genügte eigentlich als Entschuldigung für jeden Blödsinn. Die ihn kannten, wussten, wie liebenswürdig und hilfsbereit er sein konnte. Fast jeder Berliner Musiker kannte Ralle. Der mitten in der Nacht noch lossauste, um einem Gitarristen eine frische Batterie für sein Effektgerät zu besorgen. Er hatte als Roadie gearbeitet für etliche Bands: Insisters, Escalatorz, Johnny & The Drivers, Karat. Bis sie ihn rausgeschmissen haben, weil er zu oft eingeschlafen war vorm Abbau der Anlage. Oder weil er beim Einpacken eine Gitarre vergessen hatte.

Ralle wäre selbst gern Musiker gewesen. Glitzernd und berühmt. So wie Jimi Hendrix, sein Idol. Oder wie sein alter Freund Jürgen, mit dem er in der Schulzeit in einer Punkband gespielt hatte und später mal im SO36 unterm Namen „Die Spektakulären“. Jürgen hat mit „Nena“ richtig Karriere gemacht. Deren großen Hit „99 Luftballons“ liebte Ralle so sehr, dass er es irgendwie schaffte, ein paar Leute davon zu überzeugen, er, Ralle höchstpersönlich, habe das Lied geschrieben und für 10000 Mark an „Nena“ verkauft.

„Ach du Scheiße, Ralle!“, sagten die „Nenas“, als er in ihrer Garderobe stand, in Tokio. Ralle war ihnen nachgereist und nach Australien auch. Matthias, Sohn schwerreicher Eltern, hatte ihn zur großen Reise eingeladen: „Ralle, kommste mit?“ Geld spielte keine Rolle. Für kurze Zeit genoss Ralle ein Star-Leben, wie er es sich immer erträumt hatte: Stretchlimousinen, Champagner, Kokain. Vielleicht sein größtes Abenteuer. Ralle erzählte Jahre später noch davon.

In Berlin waren die Verhältnisse bescheidener. Da hing er rum bei seinen Musikerfreunden Otto und Lömel in der Yorckstraße. War einfach da und ist nicht mehr gegangen. Rausschmeißen wollten sie ihn nicht, war ja ihr Freund. Aber wenn er schon bei ihnen wohnte, sollte er wenigstens was machen. Nicht nur Roth Händle rauchen und saufen. Also wurde Ralle ihr Heizer. Einmal, als die Jungs nach Hause kamen: Wunderbar, schön warm die ganze Wohnung. „Aber wat issn hier los?“ Alle Bücherregale leer geräumt. Auch das neue Max-Goldt-Buch, das Lömel gerade geschenkt bekommen hatte: weg! Ralle stand da wie ein kleiner Junge: „Wat sollt ickn machen? Warn keene Kohln mehr da, und ooch keene Kohle, und ihr wollt dit doch schön warm ham!“ Bücher, was sind schon Bücher? Eigentlich ist Ralle sein ganzes Leben ein kleiner Junge geblieben.

Im Bad sollte er den Traps vom Waschbecken reparieren: „Ralle mach dit mal!“ Ralle machte, besorgte Teile, schraubte den ganzen Tag. Dann sagte er: „Jungs, kiekt ma, habta sowat schoma jesehn?“ Ralle dreht den Wasserhahn auf, tritt stolz einen Schritt zurück. Alle schauen ehrfürchtig aufs Waschbecken, das Wasser fließt. „Jut, Alta!“ Da macht es klack, der Traps fällt ab, „Nee, doch nich so jut. Und wir dachten, du hättest sowat mal jelernt.“ Hochdruckrohrschlosser hatte Ralle gelernt, bei Mannesmann, lange her. Da hatten sie ihn abgemahnt, weil sein Werkzeugkoffer voll gepackt war mit Bieren.

Wann das angefangen hatte mit der Sauferei, weiß keiner so genau. Vielleicht schon in der Schulzeit? Den Realschulabschluss hatte er noch geschafft, aber zu Hause in Marienfelde war es schwierig: Vater Alkoholiker, die Eltern geschieden. Mit dem Stiefvater verstand sich Ralle auch nicht. Mutter war immerzu auf Arbeit, einer musste ja Geld verdienen. Da drehte Ralle voll auf, Deep Purple, Led Zeppelin. Volle Pulle. Bier und Apfelkorn. Traktierte die kleine Schwester mit „seine Jeistamusike“. Da feuerte der Stiefvater die Stereoanlage vom Balkon. Und ständig gab es Streit um Ralles lange Haare.

Mit 19 ist er ausgezogen. Der Beginn eines Lebens zwischen Gelegenheitsjobs und Arbeitslosigkeit, zwischen eigenen Wohnungen und Asyl bei den Kumpels. Zu seinen Jobs ist er immer pünktlich erschienen, egal wie lang die Nacht gewesen war, morgens stand er auf der Matte. Einige Jahre hat er im Lager einer Weinhandlung gearbeitet. Die Kollegen mochten ihn. Hat auch mal einen Gabelstaplerschein gemacht und eine Computerausbildung. Doch immer nebenbei Schorle getrunken. Mittags war er hinüber.

Ralle war gern unter Menschen, saß im „Yorckschlösschen“ mit Freunden, hat sich eine Schorle bestellt. Und immer wieder nachgefüllt, heimlich unterm Tisch, aus mitgebrachten Flaschen. Ralle hatte immer seine Tasche dabei mit allem, was er brauchte: Apfelkorn, Weinschorle, Bier. Seine Erste-Hilfe-Ausrüstung zur Bekämpfung des Tatterichs. Sein Zahnarzt hatte ihm erlaubt, das Glas zum Mundausspülen mit Schorle zu füllen.

Doch hatte Ralles Leben auch etwas erstaunlich Geordnetes, fast Ritualisiertes. Regelmäßig telefonierte er mit Fine und Maria, seinen besten Freundinnen. Er kochte leidenschaftlich. Machte Radtouren. Jeden Sonntag besuchte er seine Mutter, bekam ein schönes Essen und eine große Provianttasche für die Woche. Einmal im Monat kam sein Freund Uwe zum Basteln am Computer.

Als Ralles Katze Mohrchen starb, brach es ihm fast das Herz. Da war er schon schwer angeschlagen. Lungenkrebs. Im Sommer warf er seinem Freund Otto eine weiße Rose ins Grab und sagte: „Otto, ick komm bald nach!“ Aber erst mal kämpfte er. Operation, Chemotherapie, Angst und Schmerzen. Versuchte immer wieder, alles mit seinem Lächeln zu überspielen.

In der Klinik machte er den Mitpatienten, hauptsächlich ältere Damen, noch ein bisschen Mut: „Mädels allet nich so schlimm!“ – und folgte schließlich Otto nach. Wie wird der ihn wohl begrüßt haben? „Ach, du Scheiße, Ralle!“

H.P. Daniels

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