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Wirtschaft: Geb. 1979

Martin Bellach

Martin Bellach

Martin Bellachs vollendet unvollendetes Leben beginnt in Prenzlauer Berg. Es wird in Casablanca enden. Im Volkspark Friedrichshain spielt Martin mit seiner Schwester Johanna, damals, Anfang der achtziger Jahre. Die Eltern arbeiten als Mathematiker an der Humboldt-Universität, die Oma hilft bei der Kinderbetreuung.

Schon als Kind ist Martin neugierig, ein Entdecker. In Zeitungen zum Beispiel gibt es jede Menge zu entdecken. Oft vergisst er, den Ofen anzuzünden, weil er in den Zeitungen, die er als Brennmaterial nutzen soll, auf etwas Spannendes gestoßen ist.

Zur Zeit der Wende ist Martin zehn Jahre alt. Eine Kindheit in Ost-Berlin liegt hinter ihm, Ferien und Wochenenden in der Uckermark, Reisen an die Ostsee und ins Erzgebirge. Später, als junger Erwachsener kann Martin ganz Europa entdecken und andere Teile der zuvor verborgenen Welt. Für Martin, so sagt die Mutter, kam der Mauerfall genau richtig. In seiner Kindheit in der DDR hat er nichts entbehrt, und seine jugendliche Aufbruchstimmung konnte er schließlich grenzenlos ausleben. In der Schule bekommt Martin den Ideologiewechsel mit – so lernt er, zunächst einmal alles zu hinterfragen. Das Heinrich-Hertz-Gymnasium in Friedrichhain ist ein guter Ort zum Forschen und Entdecken. Die Lehrer nehmen die Schüler mit auf die Reise in die fremde Welt. Martin engagiert sich in Umwelt-Arbeitsgemeinschaften, und er besucht den Religionsunterricht, obwohl er an den lieben Gott nicht glaubt.

Er hat das Gefühl, man – nein: er müsse etwas tun, zum Beispiel die Welt verändern. Im Kleinen gestaltet sich Martin seinen Alltag nach Maximierungskriterien. „Jeden Tag was Schönes“ ist so ein Motto. Als Student in Frankreich lernt er jeden Tag eine neue Vokabel oder Redewendung, das macht ihm Spaß und gibt ihm das Gefühl von Fortschritt und Herausforderung.

Nach dem Abitur beginnt Martin mit dem Mathematikstudium an der Humboldt-Universität. Bis zu seinem Vordiplom hält er es in Berlin aus und beschließt dann, nach Frankreich zu gehen, an die „Ecole Nationale de la Statistique et de l’Administration Economique“, ENSAE genannt. Ein Berliner Student, an der französischen Elite-Universität. Martin Bellach liegt die Zukunft zu Füßen. Er ist ein guter Student, es gelingt ihm, die höchste Punktzahl in seinen Studienfächern zu erreichen. Seiner Mutter teilt er die Noten nur so nebenbei mit. Sie erfährt später von Martins französischen Kommilitonen, dass Martin so gut war wie die besten Muttersprachler.

In diesem Sommer stehen mal wieder Praktika an: Martin bewirbt sich und erhält überall Zusagen. Eigentlich will er alle Angebote annehmen. Das muss doch zu schaffen sein, das Praktikum bei der Deutschen Bank in Hamburg, das bei einer Logistikfirma in Zürich, bei der Französischen Botschaft in Neu-Delhi, bei der Europäischen Zentralbank und eines in Paris. Schließlich entscheidet er sich aber, nur ein Praktikum zu machen und danach mit zwei Freunden nach Usbekistan und Tadschikistan zu reisen. Länder sollten es sein, in die sonst kaum jemand fährt.

In Paris lernt Martin Bellach nicht nur, er lebt, hat Spaß und erforscht Frankreich und die Franzosen. In seinem Zwischenbericht nach zwei Jahren resümiert er: „Für so einige Unannehmlichkeiten der ENSAE entschädigt die sehr interessante und schöne Stadt Paris; das Leben in Frankreich; das Entdecken französischer Musik, Literatur, Macken, Stärken, Essen, Wein; die Stilsicherheit, Unaufgeregtheit, Lockerheit, Antiautorität der Franzosen.“ Neben all dem findet Martin auch die Liebe in Paris. Zuletzt steht er zwischen zwei Frauen, seiner französischen Freundin und einer neuen Flamme aus Marokko. Die kennt er gerade erst zwei Wochen und beschließt, mit ihr zu ihrer Familie nach Casablanca zu fahren. Die Mutter erkennt ihren Sohn auf seinem Zwischenstopp in Berlin kaum wieder. Unablässig schwärmt er von seiner Neuen, die so klug sei und so toll und überhaupt so schön. Auf rosa, wenn nicht knallroten Wolken schwebt Martin Bellach an seinem 24. Geburtstag. Am Morgen meldet er sich aus Casablanca, alles sei toll, teilt er den Eltern mit und dass er jetzt Schwimmen gehe. Seine Freundin berichtet später, dass Martin getaucht ist, wie immer. In der Beckenmitte tauchte er auf und sagte, dass er nicht in Form sei. Dann tauchte er unter und nicht wieder auf.

Bei der Berliner Trauerfeier berichten Freunde den Eltern, dass Martins Tod ihnen Mahnung sei, ihr Leben fortan anders zu leben, genauer hinzuschauen und konsequenter zu sein. Martin hat sein Leben so gelebt – „Jeden Tag was Schönes“. Das war keine bloße Vorbereitung auf die Zukunft, sondern ein Leben jetzt und nicht später; hier und nicht irgendwo. Ein Füllhorn an Chancen und Möglichkeiten. Martin hat sie genutzt und ist auf halber Strecke seines doppelt so schnell gelebten Lebens gestorben.

Sarmina Ferhad

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