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Wirtschaft: Gerda Frank

Geb. 1922

Vom Winter in Ostpreußen hat sie oft erzählt. Nicht vom Sommer. Kann sein, dass aus ein paar Wolken lautlos Schnee fällt. Vermutlich ist da aber Sonne, kein Wind und keine Wolke am Himmel. Sie sitzt am Fenster, das Gesicht gelangweilt in die Hände gestützt. Es ist so kalt, dass der Atem an der Scheibe zu Kristallen gefriert. Dann hält sie es drinnen nicht mehr aus. Jemand ruft ihr noch etwas hinterher, aber da ist sie schon draußen, prescht die Straße hinunter, schlittert, stolpert, rennt bis in den Park. Die Luft ist rau und rein, füllt die Lungen, lüftet den Kopf. Stunden später, irgendwann am Nachmittag, steht sie wieder zu Hause. Das Bad ist schon fertig und beim Einsteigen in die Wanne lässt die Haut die glatte Emaille quietschen, bevor heißes Wasser ihren Körper umschließt. Kalt war der Tag, sonnig und klar.

Immer wieder hat sie sich an solche schönen Wintertage in Königsberg, Ostpreußen erinnert. Dabei hätte sie auch erzählen können vom Spätsommer 1944.

Viele glauben da noch der Endsieg-Propaganda. Gerda Frank ist eine der Ersten von den zwei Millionen Ostpreußen, die schließlich doch nach „Restdeutschland“ fliehen. Eine Flucht, an deren Ende einen niemand willkommen heißt. Als die Soldaten der Roten Armee die Oder überqueren, ist Gerda Frank mit ihrem einjährigen Sohn in Friesland untergekommen, in einer mit Blech bedeckten Baracke. Wo ihr Mann ist, weiß sie nicht.

Aber davon hat sie nur selten erzählt. Wer jammert, verschwendet Zeit. Man muss sich Gerda Frank als einen ungeduldigen Menschen vorstellen. Den Sommer hat sie nicht gemocht: Die Temperatur machte ihr zu schaffen, alles musste langsamer gehen.

Gerda Frank ist schnell gestorben. Plötzlich zusammen gesackt auf einem Stuhl in einem Krankenhaus. Sie war dort wegen ihrer Herz-Probleme behandelt worden, und hat sich ein Magen- Darm-Virus eingefangen. Da hat man sie gleich da behalten. Ihre Wohnung hat sie nicht noch mal gesehen.

Die Hausverwaltung hat die Familie vor die Wahl gestellt: Wohnung sofort räumen oder noch drei Monate Miete zahlen. Hätten sie eine Räumungs-Firma beauftragen sollen? Die hätte die Rückstände dieses Lebens rasch in Kisten verpackt und fachmännisch entsorgt. Die Familie entschied sich für den langsamen Auszug. Man trifft sich hier, manchmal täglich, eigentlich um aufzuräumen, zu sortieren und zusammenzupacken. Doch es ist mehr ein behutsames Abschiednehmen.

Ein bisschen ist noch da, in der Einzimmerwohnung im Seniorenwohnheim, unweit des Savignyplatzes, an deren Klingelschild in schwarzen Großbuchstaben „FRANK“ steht. Unzählige Fotos gibt es da. Auf vielen davon ist ihr Mann zu sehen – er hat sie und den Sohn schließlich noch in Friesland gefunden. Es sind da Bilder, die von Umzügen erzählen nach Gelsenkirchen, Hamburg und Berlin. Welche, auf denen man sehen kann, wie ihre sechs Kinder allmählich größer und älter werden und schließlich selbst Kinder bekommen. Über dem Bett hängt ein Poster: Marilyn Monroe steht auf dem Balkon über einer New Yorker Straßenschlucht und raucht. An der Wand gegenüber ein Bild von Willy Brandt, der dem Filmstar seine Hand entgegenzustrecken scheint.

Gestorben ist Gerda Frank im Winter. Vor ein paar Wochen war die Trauerfeier. An einem Montag, kalt, sonnig und klar.

Michael Wasner

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