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Wirtschaft: „Ich will den freien Fall der Löhne verhindern“

Der Verdi-Vorsitzende Frank Bsirske über sein Verhältnis zum Kanzler, Mindestlöhne und die Reform des öffentlichen Tarifrechts

Herr Bsirske, wie war das Jahr?

Durchwachsen. Vor allem für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Wir sind in einer Situation, in der die Konjunktur nicht aus dem Quark kommt und der Druck auf die Löhne und Arbeitsbedingungen anhält. Das Arbeitgeberlager wittert Morgenluft und redet einer weiteren Radikalisierung das Wort.

Weil die Gewerkschaften so schwach sind?

Wir haben durchaus Erfolge. Dass es uns gelungen ist, die Karstadt-Krise zu bewältigen und den Konzern zu stabilisieren, ist beachtlich. Wir haben gute Fortschritte bei der Reform des öffentlichen Tarifrechts gemacht und uns mit dem Bundesinnenminister auf eine Beamtenrechtsreform geeinigt.

Was die Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik betrifft, vor allem Hartz IV, haben Sie nichts erreicht.

Das empfinde ich nicht so. Der Protest gegen Sozialabbau hat eine deutlich breitere Basis in der Bevölkerung, als viele geahnt haben. Am 3. April waren immerhin 600000 auf den Beinen und haben gegen sozialen Absturz und Entwürdigung protestiert.

Ohne Erfolg.

Das stimmt nicht. Beim Auszahlungstermin ist immerhin ein Monat gewonnen worden. Und für jemanden, der Arbeitslosen- oder Sozialhilfe bezieht, ist das von Bedeutung, ob er einen Monat Geld bekommt oder nicht. Auch die Kinderfreibeträge wurden erhöht. Und man sollte nicht unterschätzen, dass die Montagsdemonstrationen zu einer stärkeren Sensibilisierung gegenüber einer unsozialen Politik geführt haben. Das Thema bleibt, die Auseinandersetzung geht weiter.

Warum haben Sie sich bei Ihrem wichtigsten Projekt, nämlich der Einführung von gesetzlichen Mindestlöhnen als Reaktion auf die verschärften Zumutbarkeitsregelungen für Arbeitslose, nicht durchgesetzt?

Durch Hartz IV und die neue Dienstleistungsfreizügigkeit in Europa wird der Druck auf die unteren Einkommen noch zunehmen. Unsere Aufgabe wird darin bestehen, den freien Fall der Löhne zu stoppen. Der Geist des Mindestlohns ist jedenfalls aus der Flasche und wird darin auch nicht mehr verschwinden.

Nicht mal die Gewerkschaften sind sich einig in der Bewertung von Mindestlöhnen.

Es gibt unterschiedliche Sichtweisen, je nachdem, um welche Branchen es sich handelt.Wir vertreten beispielsweise Frisörinnen und Wachleute – mit Löhnen, bei denen eine gesetzliche Untergrenze helfen würde. Es gibt ja bereits gesetzliche Normen für andere Arbeitsbedingungen. Beispielsweise ist die Arbeitszeit begrenzt, ein Mindesturlaub ist festgeschrieben, und es gibt gesetzliche Kündigungsfristen. Solche Mindestnormen sollten auch für Löhne gelten.

Das sah der SPD-Vorsitzende Franz Müntefering ursprünglich auch so. Hat sich dann Wirtschaftsminister Wolfgang Clement durchgesetzt, oder hat Müntefering das Thema Mindestlohn und auch die Ausbildungsabgabe nur ins Spiel gebracht, um die Gewerkschaften zu beruhigen?

Das glaube ich nicht. Die ernüchternde Bilanz des so genannten Ausbildungspaktes, der ja die Ausbildungsabgabe erst mal verhindert hat, stellt auch für den SPD-Vorsitzenden ein Problem dar. Und beim Mindestlohn war klar, dass es unterschiedliche Positionen gibt. Das muss nicht so bleiben.

Arbeitgeberpräsident Dieter Hundt sagt, er habe dem Bundeskanzler den Mindestlohn ausgeredet. Offenbar haben die Arbeitgeber einen besseren Zugang zu den Entscheidern als die Gewerkschaften.

Na ja, auch ich rede mit dem Bundeskanzler, auch über den Mindestlohn. Gerhard Schröder hat sich dazu skeptisch, aber keineswegs endgültig ablehnend geäußert. Wir werden sehen, wie sich das Thema programmatisch in den Parteien wiederfindet, auch im Hinblick auf die Bundestagswahl. Die Briten haben 20 Jahre darüber diskutiert, jetzt gibt es einen Mindestlohn von umgerechnet 7,13 Euro die Stunde. So etwas geht nicht im Handumdrehen. Aber ich gehe davon aus, dass wir keine 20 Jahre brauchen.

Sie haben im Sommer dem Kanzler bescheinigt, gemessen an der Arbeitslosigkeit sei er gescheitert. Hat Ihnen das geschadet?

Das war doch eine ziemlich unsensationelle Bemerkung, auch wenn sie für viel Wirbel gesorgt hat. Ich habe mit Gerhard Schröder darüber gesprochen, wie diese Bemerkung zu verstehen war. Wir haben das geklärt. Bei der Ausgestaltung von Mindestlöhnen, von Hartz IV oder dem öffentlichen Tarifrecht stehen die Sachfragen im Mittelpunkt, wobei das persönliche Verhältnis natürlich auch eine Rolle spielt.

Bei vielen Akteuren in Politik und Wirtschaft gelten Sie als der härteste Blockierer im Gewerkschaftslager. Zu Unrecht?

Was wollen Sie: einen handzahmen Verdi-Vorsitzenden, der sich einseifen lässt und abtaucht, oder einen, der Flagge zeigt, Kritik äußert und Position bezieht? Manchmal neigt die Öffentlichkeit dazu, Bilder einseitig zu malen. Das wird den Verhältnissen nicht gerecht. Im Übrigen schätzen die Verdi-Mitglieder einen Vorsitzenden, der Ecken und Kanten hat.

Wie viele Mitglieder haben Sie denn noch?

Mitte des Jahres waren es zweieinhalb Millionen. Wir haben rund 100000 neue Mitglieder gewonnen, bedauerlicherweise aber auch gut 200000 verloren.

Was halten Sie von einer Privilegierung von Mitgliedern, wie sie etwa der niedersächsische Verdi-Chef vorschlägt: Weihnachtsgeld nur noch für Verdi-Mitglieder?

Wo das rechtlich geht, sollten wir das ernsthaft prüfen. Gewerkschaftsmitglieder schließen sich zusammen, um Interessen gemeinsam zu vertreten und die Konkurrenz untereinander auszuschließen. Dabei wird die Interessenvertretung durch Nichtmitglieder erschwert. Grundsätzlich denken wir darüber nach, dass diejenigen, die sich zusammenschließen, auch materielle Vorteile gegenüber Unorganisierten haben sollten.

Am kommenden Donnerstag entscheidet Verdi über die Tarifrechtsreform im öffentlichen Dienst. Kommt die Reform?

Ja.

Und Sie wollen keine Nullrunde in der kommenden Tarifrunde?

Auch richtig. Die Beschäftigten im öffentlichen Dienst sollen an der allgemeinen Einkommensentwicklung teilhaben. Die Tarifrechtsreform und die kommende Tarifrunde sind eng verknüpft, weil die Reform Geld kostet. Und es wäre abwegig, wenn wir im Zuge der Reform neue Entgelttabellen vereinbaren und diese dann ein paar Wochen danach kündigen, um über Lohnprozente zu verhandeln.

Also werden die Entgelttarifverträge nicht gekündigt?

Ich hielte es nicht für zweckmäßig, die Verträge zu kündigen.

Was wollen Sie denn an Lohnprozenten fordern?

Das wird Bestandteil des gesamten Reformpakets, darin gibt es Komponenten zur Arbeitszeit, zur Entgeltstruktur, zur Lohnfindung und Leistungsbemessung. Das gesamte Paket einzuschätzen, ist derzeit noch nicht möglich. Aber sicherlich wird es keine Verlängerung der Arbeitszeit geben und keine Nullrunde.

Es gibt überall Nullrunden, selbst bei VW.

Bei VW gibt es eine Einmalzahlung. Im Übrigen stimmt das nicht mit den Nullrunden. Wir haben in den letzten Wochen Lohnerhöhungen etwa bei der Post, den Banken oder in der privaten Abfallwirtschaft von um die zwei Prozent erreicht. Daran orientieren wir uns.

Was ist aus Ihrer Sicht das Wichtigste bei der Reform des öffentlichen Tarifrechts?

Das öffentliche Tarifrecht mit derzeit 17000 Eingruppierungsmerkmalen ist das komplizierteste, das es gibt. Wir werden das wesentlich vereinfachen und transparenter machen. Wir führen einheitliche Regelungen für Arbeiter und Angestellte ein und machen den öffentlichen Dienst für Jüngere attraktiver, indem wir ihnen bessere Verdienstmöglichkeiten schaffen. Und künftig wird es leistungsabhängige Entgeltkomponenten geben. Die Arbeitszeit wird flexibler, und wir erhöhen die Bindungswirkung von Tarifverträgen.

Indem die niedrigste Gehaltsstufe um rund 300 Euro monatlich abgesenkt wird?

Wir kommen nicht umhin, der Entwicklung der Marktbedingungen Rechnung zu tragen. Mit dem niedrigsten Stundenlohn von künftig 7,86 Euro orientieren wir uns am Tarifvertrag der Gebäudereiniger. Es geht doch darum, für die Menschen, die zum Beispiel im Reinigungsdienst oder in den Krankenhauswäschereien arbeiten, eine tarifliche Regelung zu schaffen und dadurch auch Tätigkeitsfelder zu stabilisieren. Und es geht darum, den freien Fall der Löhne zu verhindern. Es lohnt sich allemal, diese Arbeitsplätze im öffentlichen Dienst zu halten, anstatt sie in private Firmen auszulagern, wo die Arbeitsbedingungen gerade in diesen Bereichen oft miserabel sind.

Die Bundesländer sind nicht beteiligt bei der Tarifrechtsreform. Wie kriegen Sie die wieder an den Tisch?

Indem wir ein Reformwerk erreichen, das den 50 Jahre alten BAT ablöst und auch auf die Länder ausstrahlen wird. Der Konfrontationskurs einiger süddeutscher Ministerpräsidenten wird mit Sicherheit zu schlechteren Ergebnissen für die Länder führen als das, was wir mit Bund und Kommunen vereinbaren.

Und wenn die Tarifgemeinschaft der Länder auseinander fliegt?

Dann suchen wir Lösungen mit einzelnen Ländern oder Ländergruppen. Aber ich bin sicher, dass in den Ländern aufmerksam verfolgt wird, was wir mit dem Bund und den Kommunen verhandeln. Dieser Jahrhundertreform werden sich die Länder nicht verschließen können.

Das Gespräch führte Alfons Frese.

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