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Wirtschaft: Ilse Marx

Geb. 1913

Die Kinder ließ sie mit ihrem Bundesverdienst-kreuz spielen und sich wichtig tun Sie ist Mitte achtzig, ihre Haare sind pechschwarz, ihre klaren, braunen Augen die einer jungen Frau. Sie geht und sitzt mit kerzengerade aufgerichtetem Rücken. „Das könnte doch… sie muss es sein“, denken die Leute, wenn sie sie in Friedenau auf der Straße sehen.

Tante Ilse. Die ewige Kindergärtnerin, die man aus Erzählungen kennt oder weil man selbst in ihrem Kindergarten war. Oder weil man seine Kinder oder Enkelkinder zu ihr brachte.

Man hört, sie sei seit kurzem keine Kindergärtnerin mehr, seit sie dreiundachtzig ist, nach vierundsechzig Jahren. Und sie habe sich so gut gehalten, hört man. Also fragt man.

Ilse Marx und ihre Tochter wollen gerade das Restaurant verlassen, da steht ein Mann mit schlohweißen Haaren auf. Ob sie nicht…? Gestützt auf seinen Gehstock wirkt er müde, zwanzig Jahre älter als Ilse Marx könnte er sein. Ja, auch seine Tante Ilse war sie mal.

Sie konnte viele Kinder um sich haben, aber keinen Chef. Jemanden, der ihr sagt, was zu tun sei, hätte sie auf Dauer nicht ertragen. Das ist vielleicht der Grund, weshalb sie 1932 ihren privaten Kindergarten eröffnet. Da ist sie 19, und die Wohnung, die sie mit ihren Eltern gerade bezogen hat, groß genug. Im grünen Friedenau duftet es jeden Nachmittag auf der Straße nach frisch gebrühtem Kaffee, die Beamten, die hier wohnen, haben genug Geld, ihre Kinder bei ihr abzugeben.

Am Wohnzimmertisch von Ilses Eltern sitzen nun sechs Jungs im Vorschulalter, gescheitelt und mit Hosenträgern. „Kleine Persönlichkeiten, die man auch so behandeln muss“, sagt Ilse Marx. „Nimm die Kinder ernst, immer, so jung sie auch sein mögen.“ Dieses eine Dogma gestattet sie sich.

Die Mütter loben sie für ihre frische Art, mit Kindern umzugehen. „Ihre Arbeit gefällt uns. Aber Sie wissen, wir dürfen unsere Kinder nicht zu ihnen bringen“, flüstert ihr hin und wieder eine jener Frauen zu, deren Männer Parteiabzeichen und akkurat gestutzte Schnäuzer tragen. Auch russische und jüdische Familien bringen ihre Kinder zu Ilse Marx.

Nach 60 Jahren Kindergärtnerinnenseins bekommt Ilse Marx das Bundesverdienstkreuz angeheftet. Es ist so hässlich, dass sie es nur an Fasching aus dem untersten Schrankfach hervorkramt. Aber die Kinder sind verrückt danach. Sie dürfen es sich anstecken und wichtig tun. Dann ist das Blech wenigstens für etwas gut.

Als sie über achtzig Jahre ist, sieht man ihr das vielleicht nicht an, aber sie macht sich nichts vor. Der Körper gehorcht nicht mehr wie früher. Dass sie den Kindergarten aufgibt, um in ein Altersheim zu gehen, das muss aber niemand glauben. Mag sein, sie ist alt und inzwischen auch krank. Aber muss man deswegen mit anderen den ganzen Tag darüber reden, wie alt und wie krank man ist? Für diese Art von Alter ist sie nicht alt genug.

Einer ihrer Enkelsöhne sieht das ganz genauso und lebt mit seiner Oma ein halbes Jahr in einer Wohngemeinschaft. Sie fragt ihn nicht, wann er abends nach Hause kommt, und er ermahnt sie höchstens im Spaß, sie solle statt Butter und Stullen doch mal Magerquark und Knäckebrot essen.

Ihre Wohnung liegt im dritten Stock. Sie ist nicht bitter, dass sie immer schlechter die Treppen gehen kann, und auch nicht, als sie die Wohnung irgendwann gar nicht mehr verlassen kann.

„Musst vor die Tür gehen dann erlebste was“, hat sie immer gesagt. Jetzt geht sie auf ihren Ostbalkon, auf dem sie morgens mit einer Kaffeetasse in der Hand der Sonne beim Aufgehen zusieht. So ein Balkon ist doch auch vor der Tür.

Noch Wochen nach ihrem Tod liegt auf dem weiß gedeckten Balkontisch ihr schwarzer Strohhut, der so leicht aussieht, als wäre er aus Vogelfedern geflochten. Man könnte meinen, sie sei nur mal kurz nach drinnen gegangen.

Marc Neller

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