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Bei einer Demonstration, die sich vordergründig gegen das Neubauprojekt „Carré Sama Riga“ und gegen die Teilräumung eines Hauses in der Rigaer Straße richtete, kam es vor einer Woche zu schweren Krawallen mit vielen Verletzten.

© DAVIS/Florian Boillot

Rigaer Straße: "Wir haben keinen Freiraum, sondern ein Freidrehen"

Was ist in der Rigaer los? Fragen an den Historiker und Ex-Hausbesetzer Dirk Moldt.

Herr Moldt, schon zu DDR-Zeiten gab es in der Rigaer Straße Hausbesetzer. Sie gehörten 1983 zu ihnen. Warum haben Sie damals eine Wohnung besetzt?

Die Wohnsituation bei meinen Eltern war sehr beengt. Mein Zimmer teilte ich mit meinem Bruder, der im Schichtdienst arbeitete. Für mich war damals auch wichtig, dass er eine ganz andere Musik liebte als ich. Die Wohnungsverwaltung sagte mir, als ich einen Wohnungsantrag stellte: „Kommen Sie mal in zwei Jahren wieder.“ Dagegen standen in den Berliner Altbaugebieten wie in Friedrichshain viele Wohnungen leer, die als unbewohnbar galten. Also habe ich die Initiative ergriffen.

Vergleicht man Ihre damaligen Motive mit den heutigen Hausbesetzern – gibt es Übereinstimmungen?

Soweit ich weiß, haben die Bewohner der Rigaer Straße seit Jahren Verträge und sind, im Gegensatz zu gegenwärtigen Behauptungen, keine Besetzer – abgesehen von ein paar Räumen. 1990 waren diese Häuser besetzt. Das ist jetzt 25 Jahre her. Wohnen ist ein menschliches Grundbedürfnis, das alle haben. Bei manchen spielt die Verwirklichung der Individualität eine besondere Rolle, so wie bei mir damals und auch bei vielen anderen, die Wohnungen und Häuser besetzt haben.

Dirk Moldt, geboren 1963, ist Soziologe und promovierter Historiker. Er gehörte in der DDR zur kirchlichen Widerstandsbewegung und hat sich auch nach der Wende mit dem Thema Jugendkultur und Protest auseinandergesetzt. Moldt zählt zu den Initiatoren des Jugendwiderstandsmuseums in der Galiläa- Kirche (Rigaer Straße 9-10). Aktuell beschäftigt er sich mit Studien zur Lokalgeschichte von Ost-Berliner Stadtteilen. 
Dirk Moldt, geboren 1963, ist Soziologe und promovierter Historiker. Er gehörte in der DDR zur kirchlichen Widerstandsbewegung und hat sich auch nach der Wende mit dem Thema Jugendkultur und Protest auseinandergesetzt. Moldt zählt zu den Initiatoren des Jugendwiderstandsmuseums in der Galiläa- Kirche (Rigaer Straße 9-10). Aktuell beschäftigt er sich mit Studien zur Lokalgeschichte von Ost-Berliner Stadtteilen. 

©  Promo

Es kommt auch vor, Besetzungen mit einer politischen Botschaft zu verbinden. Das hängt jeweils von der Besetzung ab. Aber darum handelt es sich in der Rigaer Straße nicht. Der Konflikt hier hat andere Ursachen. Mich erschreckt, wie wirklichkeitsfern das alles in den Medien dargestellt wird.

Sie wohnen immer noch im Kiez Rigaer Straße und haben vor acht Jahren mitgeholfen, in der Galiläa-Kirche das Jugend(widerstands)museum aufzubauen. Ist der jetzige Widerstand die Fortsetzung von Protesten gegen den Staat, die in den achtziger Jahren die „Kirche von unten“ formulierten?

Fortsetzung ist nicht das richtige Wort, denn die Geschehnisse in der Rigaer Straße schließen ja nicht unmittelbar an unsere Widerstandsgeschichte an. Aber wo es um die Verteidigung von Freiräumen geht, sehe ich deutlich Parallelen. Kein Witz: Monate vor der friedlichen Revolution wurden der Kirche von unten wegen Lärmbelästigung die Räume gekündigt. Wir waren ein Bündnis von Leuten aus vormals konspirativen marxistischen Zirkeln und aus anarchistischen Hippiepunks und werden jetzt Bürgerrechtler genannt.

Damals ging es uns um die Erhaltung und um den Ausbau von politischen und subkulturellen Freiräumen, die von der Staatsmacht und auch von verständnislosen Bürgern bedroht wurden. Heute leiden subkulturelle Soziotope einerseits unter steigenden Mieten und dem Zuzug von Menschen, die kein Interesse an den gewachsenen Strukturen hier entwickeln.

Andererseits sehe ich bei diesen Projektbewohnern und übrigens auch bei Anwohnern eine Empörung gegenüber Politikern und Amtsträgern, die diese Freiräume zu kriminalisieren versuchen. Ein Unterschied besteht darin, dass Diktatur für uns ein hartes gewaltfreies Training war. Jetzt lassen sich die jungen Leute schnell von Provokationen hinreißen. Und es gibt auch Idioten, die gern draufhauen. Auch bei der Polizei.

Was wollen die Jugendlichen in der Rigaer Straße heute – Rebellion, Anarchie?

Das müssen Sie die Jugendlichen selbst fragen. Seit vielen Jahren beobachte ich solche und ähnliche Projekte. Meine Erfahrung lehrt, dass jeder Mensch in solchen Gruppen ein bisschen was anderes will. Ich denke, es geht vor allem um den Erhalt ihrer Subkultur und ihres Lebensraumes, auch eines immens wichtigen Freiraums in einer Findungsphase. Gerade dort gibt es auch zivilisatorisch wichtige Initiativen, wie etwa zur Unterstützung von Flüchtlingen und von Stadtteilprojekten oder Umweltprojekten.

Manche engagieren sich in sozialen und kulturellen Bereichen und gehen später sogar in die Politik, wie Franz Schulz, der ehemalige Bürgermeister unseres Bezirks. Man kann diese schwer fassbaren Gruppen auch als Ursuppe der Demokratie bezeichnen, in der sich die Spreu vom Weizen lösen muss. Spreu wären in diesem Fall Blödmänner, die es gern mal krachen lassen. Betonköpfe, die im Moment Oberwasser zu haben scheinen. Die sehe ich aber auch in der Politik.

Nachbarn, Familien mit Kindern, Kleingewerbe brauchen ein sicheres Umfeld. Kollidiert das mit den Vorstellungen von autonomen Freiräumen?

Haben die Bewohner der ehemalig besetzten Häuser der Rigaer Straße etwas gegen Nachbarn, Familien und Gewerbetreibende? Auch in vormals besetzten Häusern leben Familien mit verantwortungsvoll handelnden Eltern. Und auch Ex-Hausbesetzer kaufen lieber bei Kleinunternehmern als in Malls ein. Glauben Sie mir, es gibt auch unter diesen Leuten Spießigkeit. Und die wären selbstverständlich extrem sauer, wenn man ihnen das Auto abfackeln würde.

Was wir im Moment haben, ist kein autonomer Freiraum, sondern ein Freidrehen, eine extreme Ausnahmesituation. Momentan wird von Gewaltexzessen Einzelner auf sämtliche Bewohner dieser Projekte geschlossen. Das ist falsch. Zudem berichten mir unbeteiligte Anwohner, dass sie unnötige Provokationen durch die Polizei beobachten.

Wie lebt es sich in der Rigaer Straße?

Eigentlich sehr gut. Die Rigaer ist die Magistrale des Friedrichshainer Nordkiezes. Ihr besonderer Charme besteht im scheinbar Unfertigen, Kreativen, was noch viele Möglichkeiten zulässt. Es ist das, was kreatives Potential anzieht, etwas, das den Bezirk ausmacht. Wir haben bei uns ein Dutzend solcher soziokulturell engagierter Wohnprojekte, und die Anwohner stört das nicht. Im Gegenteil. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass solche Projekte das Salz der Erde sind, aus denen Neues entsteht.

Gewalt ist nicht die Normalität. Sie ist eine Randerscheinung. Im Moment des Ausnahmezustands ist die Präsenz der Polizei mit ihren Tag und Nacht hin und her rangierenden Fahrzeugen und den ununterbrochen laufenden Motoren sehr unangenehm. Sie tritt häufig auch nicht kommunikativ oder kooperativ in Erscheinung, wenn man sie zum Beispiel darum bittet, Platz zu machen. Wie denn auch, die Einsatzkräfte bestehen aus überwiegend ganz jungen Beamten ohne Lebenserfahrung.

Wie würden Sie die Nachbarschaft beschreiben?

Wenn es um kulturelle Kiezprojekte geht oder aktuell darum, die Flüchtlinge vor dem Lageso (Landesamt für Gesundheit und Soziales, die Red.) zu unterstützen, dann sind diese Projekte wichtige Ansprechpartner. Ansonsten sind sie ganz normale Nachbarn. Dass ein Teil von ihnen auf dem „Dorfplatz“ – der Straßenkreuzung Rigaer, Ecke Liebig – sitzt, gehört zum Lokalkolorit. Manchmal nervt es, aber man kann mit ihnen reden.

Ich habe einmal eine Stadtführung gemacht und nicht darauf geachtet, dass die Teilnehmer ihre großen Kameraobjektive auf ein paar junge Leute vor einem der Hausprojekte richteten. Ich würde mich auch nicht gern von Touristen fotografieren lassen. Die Antwort folgte prompt in Form von rohen Eiern, die angeflogen kamen. Ich war sehr erschrocken, aber die Teilnehmer nahmen es locker und fragten mich, was ich denen für diese Aktion bezahlt hätte.

Wer könnte zwischen unterschiedlichen Interessen im Kiez vermitteln – vielleicht die Kirche wie zu DDR-Zeiten?

Vermitteln könnte jeder, der Konfliktmanagement und Mediation auf dem Kasten hat. Einfach mal in die Gelben Seiten schauen. Jedes halbwegs professionell agierende Unternehmen rechnet heutzutage jederzeit mit Interessenkonflikten und greift selbstverständlich auf solche Angebote zurück. Dass die Berliner Regierung auf die Möglichkeiten eines solchen Instrumentariums verzichten will, verstehe ich nicht.

Bitte verstehen Sie mich nicht falsch. Ich habe absolut kein Verständnis für Gewaltkriminalität und würde mich auch nicht auf eine Verhandlungsoption: „Ihr zieht die Polizei ab, und wir zünden keine Autos mehr an!“ einlassen. Aber es ist grundfalsch, so zu tun, als ob alle Bewohner dieser Projekte dort so drauf sind. Die Berliner Polizei hat hervorragende Fachleute, die professionell gegen Kriminalität vorgehen können, wo immer sie auftritt. Doch man muss das anleiten können, und man muss es auch anleiten wollen.

Gentrifizierung – das ist ein rotes Tuch für viele. Aber sie ist auch eine Realität. Die Stadt wird aufgemöbelt, der sogenannte Substandard bei Niedrigmieten verschwindet. Hat die Rigaer Straße in diesem Prozess eine Zukunftschance?

Ich habe die ersten Jahre der Gentrifizierung als befreiend in Erinnerung. Allmählich verschwanden die durchgeknallten Zombies, die einen aus Frust oder aus Spaß vermöbeln wollten, wenn man ihnen in die Quere kam.

Veränderungen der Lebensumwelt kann man nicht aufhalten, aber man kann sie begleiten und mitbestimmen. Das ist der Vorteil und der Nachteil der Demokratie: Man darf nicht nur, man muss auch dranbleiben. In ehemals besetzten Häusern wird weniger Miete bezahlt, manche haben partizipatorische Strukturen entwickelt. In Stadtteilprojekten üben sich Anwohner darin, ein Verständnis füreinander und verantwortungsvolles Handeln zu entwickeln.

Aber es gibt auch empfindliche Nackenschläge. Erst vor einigen Tagen wurden die beiden ältesten Häuser in der Rigaer Straße, die 1875 auf freiem Feld errichtet wurden, abgerissen. Die standen sogar auf der Denkmalliste. Damit wurde ein Identifikationsmerkmal für immer ausgelöscht. Auf der positiven Seite steht die Verpflichtung des Investors, einen Teil der Räume an kulturelle und soziale Projekte zu vermieten. Ein Versprechen, an das ich persönlich nicht glaube, aber es ist erstmalig ausgesprochen worden.

Wie lautet Ihre Prognose? Wird die Rigaer Straße wie einst Mainzer Straße oder Naunynstraße in Kreuzberg wieder zu einer gewissen Normalität finden?

Über zwanzig Jahre war die Rigaer Straße mit ihren subkulturellen Milieus Normalität. Normalität sind auch andere ehemalige Besetzerprojekte. Berlin ist die europäische Metropole solcher Wohnhäuser, Kulturinstitute oder ähnlicher soziokultureller Einrichtungen. Künstler, Wissenschaftler, Politiker, Verwaltungsfachleute, die aus solchen Milieus kommen, sind verankert in der Gesellschaft und weit vernetzt. Ich bin fest davon überzeugt, dass die Politik den friedlichen Weg gehen wird.

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