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© dpa

Rio de Janeiro: Rausch für die Sinne

Neues Land, neues Glück: Der deutsche Filmemacher Andreas Schoyerer ist nach Brasilien ausgewandert. Dort hat er Paläste neben Pappbuden gefunden und Superreiche neben Landlosen.

Das Küchenmesser strahlt im Licht von Rios Straßenlaternen. Der Gauner hat es Andreas Schoyerers Bruder an den Hals gelegt und verlangt Geld. Plötzlich bricht die Wut aus Andreas heraus. In breitestem portugiesischen Gossenslang schnauzt er den Übeltäter an. Der schnappt sich den Rucksack seines deutschen Opfers und trollt sich. Manchmal ist Brasilien kein Traumland. Trotzdem liebt Andreas Schoyerer seine Wahlheimat, in die er vor acht Jahren ausgewandert ist. „Schrecklich schön ist es hier“, beschreibt der 35-Jährige sein Gefühl für die Stadt am Zuckerhut. Der Überfall ist schon ein paar Jahre her. Aber Schoyerer erzählt die Geschichte mit blitzenden Augen, als sei sie gestern geschehen. „Das hätte natürlich schief gehen können“, räumt er ein, „aber eine halbe Stunde später haben wir schon wieder fröhlich einen getrunken“.

Das Auswandern nach Brasilien ist die Entscheidung für ein Leben inmitten von Gegensätzen. Im fünftgrößten Land der Erde gibt es brutalste Gewalt und überschäumende Lebenslust. Da gibt es wunderschöne Strände, umrahmt von Umweltverschmutzung. Da stellen die Superreichen baumhohe Mauern um ihre Villen, neben denen die Armen in ihren Hütten kauern. Da geben sich Offenheit und Ignoranz die Hand. Vielleicht muss man ein Typ wie Andreas Schoyerer sein, um sich hier wohl zu fühlen. Einer, der gerne aneckt. Den Extreme faszinieren und der sein Leben lang ein Wanderer war.

Die Geschichte des aneckenden Wanderers Schoyerer beginnt 1990. Der 18-Jährige hat gerade sein Abi und wohnt im beschaulich-bayerischen Cham, ein paar Kartoffelfelder von der tschechischen Grenze entfernt. Während seines Zivildienstes grübelt er über seine Zukunft. „Ich dachte mir: Wenn Gott nicht mit leuchtenden Fingern meinen Weg an den Himmel zeichnet, dann mache ich was Verrücktes.“ Verrückt heißt für ihn, nach Afrika zu gehen, weil den Bayern schon lang das Fernweh gepackt hat. Zur Vorbereitung studiert Schoyerer 1991 ein Semester Afrikawissenschaften in Berlin.

Zufällig begleitet er dort seinen Onkel, einen Fotografen, in eine Schmiede. Ein Besuch, der das berufliche Schicksal des abenteuerhungrigen Studenten entscheidet. „Als Schmied kannst du in Stockholm Gartentore machen oder in Mexiko Pferde beschlagen“, sagt Schoyerer. Er trampt durch Deutschland und schaut sich alle Schmieden an. Ausgerechnet im bayerischen Straubing, nur 40 Kilometer von seinem Heimatort entfernt, findet er eine Kunstschmiede nach seinem Geschmack. Also tauscht er das Leben in der Metropole wieder gegen die Betulichkeit der Provinz ein: Jeden Morgen um sechs aufstehen, das Feuer anfachen, den ganzen Tag in die Glut schauen, das heiße Eisen bearbeiten. Nebenbei betreibt er eine Cocktailbar.

Dennoch befällt den Abenteuerlustigen bald nach seiner Ausbildung die Angst: Soll er sein ganzes Leben in Bayern verbringen? Nein. 1996 schnürt er sein Bündel, fährt nach London und steigt dort in die Schmiede eines Engländers ein. Es läuft gut: Er darf die futuristische Bühne für das Musical „Golem“ schmieden, hat lukrative, interessante Jobs. Doch dann kommt der Anruf eines Kumpels aus Rio: Andreas soll ihm helfen, Möbel zu schmieden. „Eigentlich wollte ich immer noch nach Afrika. Aber dann wurde es eben Brasilien.“ Angekommen in Rio de Janeiro, verliebt sich Schoyerer gleich mehrfach. Zum einen in die warme Sonne, die ihn morgens wach streichelt, den duftenden Kaffee, die Gässchen mit den Bauten im Kolonialstil. Zum anderen in Janaina, eine hübsche Schauspielerin. „Die erste Zeit war ein Rausch für die Sinne: diese Farben, Geräusche und Geschmäcke!“ Was Schoyerer jedoch von Anfang an aufstößt, ist die reiche brasilianische Oberschicht. „Die bewegen sich eitel und ignorant durch die Stadt und schauen auf diejenigen herab, die vom Leben weniger verwöhnt sind.“ Schoyerer weiß: Für die Palasttore dieser Klientel könnte er barocke Handläufe schmieden. Aber der Deutsche will mehr von Brasilien kennen lernen, nicht nur elitäre Zirkel.

Aus einer Bierlaune heraus bewirbt er sich um einen Platz an der Filmakademie in Rio – und wird angenommen. Acht Semester studiert er für sein Diplom, seinen Lebensunterhalt bestreitet er mit Hilfe seiner Eltern. Sein neues Handwerk macht ihm Spaß, und als Janaina schwanger wird, wächst der Druck, daraus einen Broterwerb zu machen. Schon während des Studiums schließt Schoyerer Kontakte und dreht bald Video-Clips, Werbefilme, TV-Dokumentationen. Der US-Rapper „The Kid“ aus Washington arbeitet ebenso mit ihm wie der populäre brasilianische Sänger Jorge Ben Jor. Außer als Regisseur arbeitet er auch als Produzent, unter anderem für den deutsch-französischen TV-Sender Arte und die britische BBC.

Um 2004 beginnt Rio nach einem neuen Rhythmus zu tanzen: Samba ist out – der „Baile Funk“ tritt seinen Siegeszug an. Harte Jungs aus den Favelas, den Slums von Rio de Janeiro, singen von Knarren, Frauen, Knast. Und der Chef eines einheimischen Musiklabels fragt Schoyerer, ob er nicht eine Video-Produktionsfirma für ihn aufbauen möchte. „Zum ersten Mal in meinem Leben hatte ich einen festen Job“, erinnert sich Schoyerer. Aber auch diesmal überwirft er sich mit seinem Chef. „Der hat mich über den Tisch gezogen“, erzählt der charismatische 35-Jährige. Da läuft es heute besser. Schoyerer ist wieder als freier Film- und Fernsehautor unterwegs. Gerade hat er eine Werbeproduktion für Ericsson beendet. Außerdem schreibt er ein Filmdrehbuch. Und er will ganz offiziell eine eigene Produktionsfirma gründen.

„Gerade mit ausländischen Auftraggebern lebt es sich hier blendend“, sagt Schoyerer. Schon mit 500 Euro monatlich, die zum Beispiel ein Informatiker verdient, lässt sich in Brasilien ein gutes Leben führen. Wer mehr hat, schwelgt fast im Luxus. Schoyerer hat mehr. Mit 2500 Real – etwa 1000 Euro – verdient er für brasilianische Verhältnisse beinahe königlich. Stolz führt er durch seine Wohnung, die aus zwei Stockwerken in einem alten Haus im malerischen Stadtteil Santa Teresa besteht. Hier wohnt er mit seiner neuen Lebensgefährtin Flavia.

Schoyerers Domizil besteht aus drei Zimmern, einem schicken Bad, einer üppig bewachsenen Dachterrasse und einem zum Atelier ausgebauten Dachboden. Der Holzboden im Wohnzimmer ist mit Einlegearbeiten in Form von Sternen und Würfeln verziert. „Ich lebe hier wesentlich besser als in Deutschland“, ist der Bayer überzeugt.

Daran, dass abends von den umliegenden Armenvierteln Schüsse herüberhallen, hat er sich gewöhnen müssen. In der Metropole sterben alljährlich mehr Leute durch Verbrechen als im Straßenverkehr. Die Gewalt ist in Rio ein Stück Alltag geworden. Nachbarn erzählen sich auf der Straße davon – ebenso wie von den neuesten Fußballergebnissen. „Die Gewalt richtet sich meistens nicht gegen den Menschen an sich. Sie ist vielmehr ein Mittel der Umverteilung in einem ungerechten und korrupten gesellschaftlichen System“, analysiert Schoyerer, der Philosoph, und konstatiert aller Kriminalität zum Trotz: „Die Menschen hier sind der größte Reichtum, denn sie sind viel offener und freundlicher miteinander als in Deutschland.“

Auch die brasilianische Musik begeistert ihn. Und natürlich das Essen: Ein brasilianisches „Churrasco“ in großer Runde mit riesigen Fleischspießen, von denen Portionen für jeden nach Wunsch abgesäbelt werden, schlägt das deutsche Grillen um Längen. Ein paar Dinge vermisst jedoch sogar der flexible Schmied mit den deutschen Wurzeln: bayerisches Weißbier, die deutschen Jahreszeiten, Motorradfahren. „Das ist zu gefährlich. Zu krasser Verkehr, zu viel Diebstahl. Und auch deutsche Freundschaften sind was anderes – irgendwie solider.“

Jeden Tag besucht Schoyerer zudem deutsche Internetseiten, um den Anschluss an die Themen der Europäer nicht zu verlieren. Daher weiß er auch, dass es bei vielen Auswanderern nicht so glatt läuft wie bei ihm. Oft kehren sie nach einigen Jahren frustriert aus Brasilien heim nach Deutschland. Zwar sind die Einreisehürden für Ausländer zunächst vergleichsweise moderat: Wer in Brasilien bleiben will, braucht lediglich eine Aufenthalts- und eine Arbeitsgenehmigung. Diese gibt es in der Regel problemlos, sobald Ausländer eine Anstellung im Land nachweisen. Jedoch sind ordentlich entlohnte Jobs rar, und die Schar gut ausgebildeter einheimischer Bewerber auf dem Arbeitsmarkt ist groß. Wie Schoyerer wählen deshalb viele Einwanderer einen anderen Weg zur Legalisierung: Sie heiraten. „Hier in Brasilien musst du spontan sein und das Leben spielerisch nehmen“, sagt Schoyerer. „Für mich war das goldrichtig: Ich habe schon immer gerne quer geschossen.“ Prinzipientreuen Deutschen empfiehlt der Bayer seine südamerikanische Wahlheimat allerdings nicht.

Am Abend sitzt Schoyerer rauchend am Strand von Ipanema, trinkt ein Brahma-Bier und erzählt von seinem Traum: Er möchte wieder eine Schmiede eröffnen. „Als Sozialprojekt, um arme Jugendliche aus den Favelas zu holen und sie dort auszubilden.“ Der unternehmungslustige Schoyerer fährt sich durchs Haar und schaut aufs Meer. Da drüben, hinter dem Ozean, muss irgendwo Afrika liegen. Karriere-Magazin

Christoph Wöhrle

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