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Wirtschaft: Meinolf Nitsch

(Geb. 1960)||Spezialfrisur, Punkmusik, Agrarstatistik: Muss man alles ernst nehmen!

Spezialfrisur, Punkmusik, Agrarstatistik: Muss man alles ernst nehmen! Es gab eine Zeit, da kehrte Meinolf Nitsch immer wieder in derselben Kneipe ein, weil er den Blick von einem Barkeeper nicht lassen konnte, genauer: von dessen Haartracht. Nach wochenlangem Studium ließ Meinolf Nitsch sich schließlich dieselbe Frisur verpassen. „Es ist die Frisur eines Psychiatrie-Flüchtlings der vierziger Jahre“, beschreibt sie ein Freund.

Ob als Frisurträger, als Schlagzeuger in einer Punkband oder als Historiker – in allem, was er tat, ließ Meinolf Nitsch äußerste Sorgfalt walten.

Selbst die Wege zum Supermarkt oder zum nächsten U-Bahnhof ging er mit größter Aufmerksamkeit. Kein Detail, das ihm entgangen wäre. Der rote Schlitten da hinten! Parkt ausgerechnet vor der Hauswand, an die jemand gesprüht hat: „Einfach mal was kaputt machen!“

Das war Stoff für gute Laune, den man konservieren sollte. Meinolf Nitsch holte seinen Fotoapparat hervor und drückte auf den Auslöser.

Mit großer Freude sammelte er verbreitungswürdige Sprüche, etwa „Da scheißt der Hund ins Feuerzeug“ oder innovative grammatikalische Formen: „Da kann der Mann nich für!“

Langweilig dagegen erschien ihm das Vorlesungsverzeichnis der Historiker an der FU: Kaiser, Kriege, Könige. Ein Autonomer wie er, der in einem selbstverwalteten Haus wohnte, sollte Frontverläufe und adlige Stammbäume büffeln? Seine Cowboystiefel sollten nicht länger unter dem Seminartisch verstauben! Stattdessen klopften sie jetzt in der Punk-Band „Nur Nette Gabis“ den Takt.

Die Unabhängigkeit beider Hände, das faszinierte ihn. Tag und Nacht trommelte er auf Tischkanten, Stuhllehnen, Regalbrettern herum. Er bewunderte die Free-Jazzer. Freiheit durch die perfekte Beherrschung des Handwerks.

Doch so laut er auch trommelte, der Forschergeist blieb. Meinolf Nitsch musste sich entscheiden: Geschichte oder Musik. Er war viel zu gründlich, um aus einer Liebe nur ein Hobby machen zu können. Nach zwei Jahren verkaufte er sein Schlagzeug und kehrte in die Universität zurück.

Wenn ehemalige Kommilitonen nach dem Studium zu klagen begannen, weil das Job-Angebot dünn war, blieb er stumm. Man hatte doch das Magisterstudium gewählt, weil man die Wissenschaft liebte, und nicht weil man sich davon einen Geldregen versprach! Befremdet registrierte er, dass andere Umschulungen machten, um in Finanzinstituten unterzukommen, oder dass wieder andere wie am Fließband publizierten, nur um mit der Zahl der Publikationen zu prahlen wie Generäle mit ihren Orden. So wenig er die Könige und die Feldherren liebte, so wenig liebte er die Karrieristen.

In seiner Doktorarbeit widmete er sich privaten Wohltätigkeitsvereinen im Kaiserreich. Als er das Werk nach sieben Jahren freigab, warnte er im Vorwort seine Leserschaft vor der Genauigkeit seiner Arbeit. „Die Neigung des Verfassers zur akribischen Wiedergabe einer Unmenge an Details stellt den Leser auf eine Geduldsprobe“, bestätigte ein Rezensent.

Doch, auch Meinolf Nitsch war manchmal traurig, weil er sich nicht anerkannt fühlte und Forscherträume hatte, die ihm niemand finanzieren wollte.

Dennoch arbeitete er gerne an seinem letzten Projekt, der Erstellung einer Agrarstatistik.

Irgendwo in den Zahlentabellen gab es immer wieder handschriftliche Vermerke, garstige Äußerungen von Dorfbewohnern über ihren Fürsten etwa. Mit solchen Schätzen füllte Meinolf Nitsch sein Notizbuch – auch um damit seine Freunde zu unterhalten.

Bis ihm ein Hirntumor die Wörter und die Konzentration zu nehmen begann. In den letzten Tagen kamen viele Freunde zu ihm nach Hause, um ihn zu verabschieden, diesen Meinolf. Sie betrachteten seine „Doofkappe“, eine verbeulte Baseballmütze an der Garderobe, und wussten, dass er ihnen fehlen wird.

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