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Wirtschaft: Neuer Markt: Zum Geburtstag nur Selters

"Es werden noch viele Engel vom Himmel fallen", fürchtet Wassili Papas. Der Fondsmanager aus dem Haus Union Investment glaubt sogar, dass der Neue Markt (siehe Lexikon ) in seinem sechsten Lebensjahr "30 bis 50, vielleicht sogar bis zu 100" Unternehmen verlieren werde.

"Es werden noch viele Engel vom Himmel fallen", fürchtet Wassili Papas. Der Fondsmanager aus dem Haus Union Investment glaubt sogar, dass der Neue Markt (siehe Lexikon ) in seinem sechsten Lebensjahr "30 bis 50, vielleicht sogar bis zu 100" Unternehmen verlieren werde. Morgan Stanley sieht noch schwärzer: 80 Prozent der Unternehmen, so die US-Bank, werden nicht überleben: Tod durch Bankrott, Betrug vielleicht, bestenfalls durch Übernahme. Das Vabanque-Spiel für die Anleger gehe also weiter, räumt auch Papas ein.

Zum fünften Geburtstag an diesem Sonntag ist das Großreinemachen noch nicht beendet. Zwar hat sich der Neue Markt, gemessen an seinen absoluten Tiefstständen vom 21. September 2001 schon deutlich erholt. Bisher schaffte der Nemax All Share ein Plus von über 40, der Nemax 50 sogar von über 50 Prozent. Verglichen mit den Höchstständen des 10. März 2000 sind das jedoch nicht mehr als Peanuts: Bis auf 8546 beziehungsweise 9665 (Nemax 50) waren die beiden Indizes emporgeschnellt.

Dabei hatte alles so wunderbar begonnen. In den ersten drei Lebensjahren glaubten die Väter und Mütter des Neuen Marktes immer häufiger, ein Wunderkind in die Welt gesetzt zu haben, ein Stelldichein potenzieller Weltmarktführer. Begleitet vom starken konjunkturellen Aufschwung und somit guten Unternehmensnachrichten plus dem unerschütterlichen Glauben an die New Economy wurde gekauft, gekauft, gekauft. Jeder wollte dabei sein, wenn sich Ersparnisse binnen kürzester Zeit vertausendfachten.

In den Monaten um den Jahrtausendwechsel, als sich die Kurse am Neuen Markt verdreifachten, war es Banken wie Anlegern schlicht egal, dass bei Börsengängen im 1,5-Tage-Turnus die Börsenfähigkeit höchstens kursorisch überprüft werden konnte. Letzte Zweifler wie das Deutsche Aktien-Institut, die noch auf alte Börsengesetze pochten, wurden als Miesepeter verspottet. Bewertungsmaßstäbe wie das Kurs-Gewinn-Verhältnis wurden ersetzt durch den Konsens darüber, dass eine Aktie eben "sexy" sei. Es gab Aktionäre, die bereit waren, für RTV das 438fache des Gewinns zu zahlen. Intershop-Konkurrent Broadvision hatte ein Kurs-Gewinn-Verhältnis (KGV) von 763. Selbst renommierte Banken verbreiteten astronomische Kursziele. Unternehmenschefs traten auf wie Popstars, Analysten und Fondsmanager stiegen auf zu Gurus.

Doch unmittelbar nach ihrem dritten Geburtstag ging der Rakete der Treibstoff aus. Binnen vier Wochen verlor der Neue Markt ein Drittel, im Gleichklang mit der US-Wachstumsbörse Nasdaq. Bis zum vierten Geburtstag hatte der Nemax 50 knapp vier Fünftel seines Wertes eingebüßt.

Weit schlimmer als die immer trüberen Konjunkturnachrichten wirkte sich die Entzauberung des Marktes aus. Einst hochgelobte Firmenbosse entpuppten sich als Bilanzkosmetiker oder gar Betrüger. Per Ad-hoc-Mitteilung wurden Aufträge verkündet, die es nie gab. EM.TV stolperte wie viele andere über den Kaufrausch aus Boomjahren und geschönte Zahlen, die die Aktionäre bei Laune halten sollten. Anfang 2001 fiel auch die bisher makellose Ikone Intershop. Die Jenaer Firma, zuvor zu einem der wichtigsten Anbieter für E-Commerce-Software aufgestiegen, schockte die Aktionäre mit einer Gewinnwarnung. Der Kurs sackte darauf binnen weniger Minuten um 70 Prozent in sich zusammen.

Seither waren Insolvenzen, Betrügereien, Kursmanipulationen und Insiderverkäufe an der Tagesordnung. Der Nemax ignorierte beharrlich die Kursziele der Experten für 2001: Statt auf 3200 bis 3600 (Hypovereinsbank) oder gar 4000 bis 4500 (Lang & Schwarz) zu steigen, implodierte der All Share bis Jahresende auf 1200 Punkte. In der "Spielhölle für Schrottwerte" wollte außer Zockern niemand investieren. Der Börsenwert aller Nemax-Unternehmen sank von 243 Milliarden Euro am 10. März 2000 auf aktuell 57 Milliarden, obwohl die Zahl der notierten Firmen von 220 auf aktuell 319 stieg. Die Deutsche Bank hielt das Segment für "nicht analysierbar", die Fondsgesellschaft Adig gar für "momentan tot".

Dabei hatte die Börse eine Schadensbegrenzung versucht. Sie verschärfte ihre Börsenregeln: Pleitekandidaten, Pennystocks und Unternehmen, die ihren Berichtspflichten nicht nachkommen, werden konsequent vom Markt geworfen. Erster Kandidat: Kabel New Media. Es folgten unter anderem Prodacta, Brokat, MB Software und Lipro.

An seinem fünften Geburtstag hat die Horror-Show Neuer Markt, bestätigt Papas, praktisch keine institutionellen Anleger mehr - außer jenen, die Neue-Markt-Fonds im Programm haben. "Das wird auf absehbare Zeit auch so bleiben", sagt Christian Kahler, Neuer Markt-Stratege bei der DZ-Bank. Trotzdem ist der Analyst optimistisch: Die jüngste Kurserholung zurück über die 1000-Punkte-Marke werde sich fortsetzen. Der Selbstreinigungs-Prozess werde zwar "noch ein paar Jahre andauern", doch könne man nun schon selektiv einsteigen.

Kahler gefallen beispielsweise Medion, Thiel Logistik, Singulus oder SAP SI gut. Auch die Biotechnologie werde zurückkommen. Papas, der auch selbstkritisch einräumt, auf den New-Economy-Euphorie hereingefallen zu sein, setzt nun auf Familienunternehmen "vom alten Schlag". Mühlbauer oder Pfeiffer Vacuum beispielsweise: "Die werden von Leuten mit Integrität geführt, da geht es nicht um die schnelle Mark", ist sich Papas sicher. Lieblingskind vieler Analysten ist der Maschinenbauer Aixtron. Ein Plus von über 900 Prozent seit der Erstnotiz im November 1997 zeigt denn auch, dass die Story Neuer Markt nicht nur aus Nepp, Crash und Blendwerk besteht.

Spielt die Konjunktur mit, dann sieht DZ- Experte Kahler für den Nemax 50 einen Punktestand von 1300 bis 1500 Punkten, und zwar in den nächsten sechs Monaten. Auf ein 50-prozentiges Plus bis Jahresende setzen auch Papas und sein Kollege Karl Fickel, Fondsmanager bei Lupus Alpha und renommierter Marktexperte. Liegen die Experten richtig, dann werden auch die gebeutelten Aktionäre zum sechsten Geburtstag langsam wieder von Selters auf Sekt umschwenken.

Veronika Czisi

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