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Wirtschaft: Nieder mit den Normen!

Die Erhöhung der Arbeitsvorgaben löste die Revolte gegen den Sozialismus aus. Doch auch der Kapitalismus setzt die Menschen unter Druck – die Gewerkschaften wehren sich

Mehr arbeiten für das gleiche Geld? Weniger Geld für die gleiche Arbeit? Die Erhöhung von Arbeitsnormen ist ein Dauerstreitpunkt zwischen denen, die Arbeit geben, und denen, die sie nehmen. Dabei spielt es keine Rolle, ob ein kapitalistischer Fabrikbesitzer die Pause streicht oder eine Parteiführung beschließt, dass die Genossen in den volkseigenen Betrieben einen größeren Beitrag für den Aufbau des Sozialismus leisten dürfen. Ob Sozialismus oder Kapitalismus: Normen sind ein gutes Instrument, um Leistung zu messen – aber auch, um den Leistungsdruck zu verschärfen.

Am 17. Juni 1953 geriet der Arbeiterprotest gegen die zehnprozentige Normerhöhung sogar zum Volksaufstand. „Nieder mit den Normen“ war eine der ersten Parolen. Für die DDR-Wirtschaft spielten die Arbeitsnormen eine zentrale Rolle: „Mangels marktwirtschaftlicher Konkurrenz brauchten die Wirtschaftsplaner Leistungsanreize“, sagt André Steiner, Wirtschaftshistoriker am Potsdamer Zentrum für Zeithistorische Studien. So hatte sich der sozialistische Staat schnell von den ursprünglichen Einheitslöhnen verabschiedet. Für die Erfüllung der den Arbeitsbrigaden vorgegebenen Norm – etwa eine bestimmte Kubikmeterzahl Kohleabbau in einer festgelegten Zeit – gab es einen geringen Grundlohn. Für Planübererfüllung gab es Zulagen. „Die zunächst eingeführten Arbeitsnormen waren oft so gering, dass sie bei weitem übererfüllt wurden, um bis zu 200 Prozent“, erklärt Steiner. Aus volkswirtschaftlicher Sicht erschien die Normerhöhung, auch wegen der schlechten Versorgungslage, den Planern als schlichte Notwendigkeit.

Die Arbeiter sahen das natürlich anders: Sie wussten, dass die Normerfüllung nicht nur von ihrer Leistung abhing, sondern auch von Materiallieferungen, die oft zu spät oder gar nicht kamen. Gerade die Bauarbeiter der Stalinallee, die den Anstoß für den Aufstand gaben, klagten über Mangel an Baumaterial und Maschinen. So führte der Ärger über die Normen zum Protest gegen die Mangelwirtschaft und letztlich gegen das ganze System.

Dass Arbeitsnormen nicht auf die Baustellen und Fabrikhallen beschränkt sind, sondern auch im Computerzeitalter den Takt vorgeben, wissen Mitarbeiter von Call-Centern sehr genau. Seit Mitte der neunziger Jahre lagern viele Firmen ihren Telefonservice an externe Dienstleister aus. Deren Mitarbeiter hängen mitunter pausenlos an der Strippe: Sobald ein Gespräch zu Ende ist, leitet das Telefonsystem den nächsten in der Leitung wartenden Kunden zum frei gewordenen Mitarbeiter. Dabei wird jeder Arbeitsschritt des Mitarbeiters aufgezeichnet, die Zahl der pro Stunde bedienten Anrufer gespeichert. „Besonders anstrengend sind Telefonsysteme, die während des Gesprächs anzeigen, wieviele Kunden noch in der Leitung warten“, sagt Ottmar Dürotin, Call-Center-Experte der Gewerkschaft Verdi. Die Mitarbeiter wissen: Erfüll die Quote, oder du verlierst den Job.

Im anfänglichen Boom der Call-Center habe es haarsträubende Arbeitsbedingungen gegeben, sagt Dürotin: „Beim Gang zur Toilette wurden Mitarbeiter von Teamleitern begleitet, oder sie wurden aufgefordert, bis zur Pause zu warten. So soll die 80/20-Quote eingehalten werden.“ Nach dieser Branchenregel sollten 80 Prozent der Kunden in den ersten 20 Sekunden ihres Anrufs bedient werden. Mittlerweile hätten sich die Arbeitsbedingungen verbessert, sagt Dürotin – auch dank zunehmender gewerkschaftlicher Organisation der Mitarbeiter. Jetzt dürfen sie meist angemessene Pausen machen, oder zwischen dem Telefonieren und anderen Tätigkeiten wechseln.

Die Forderung, die Arbeitsleistung pro Zeiteinheit zu erhöhen, wird vor allem dort laut, wo die Kosten kontrolliert werden sollen. So brachte die Einführung der Pflegeversicherung 1996 dem Personal der Branche „Orientierungswerte zur Pflegezeitbemessung“. Sie führen genau auf, wie viele Minuten Zeit Pflegerinnen für jede Tätigkeit haben. Die früher „ganzheitliche“ Pflegeleistung wurde so in Einzeltätigkeiten zerlegt, um die Kosten exakt abrechnen zu können.

Ähnliches kündigt sich jetzt im Gesundheitswesen an. In Krankenhäusern werden zurzeit die so genannten Fallpauschalen eingeführt. Sie sollen die Kostenabrechnung überprüfbarer machen – und könnten dazu führen, dass auch der Zeitaufwand pauschal pro Fall immer stärker standardisiert wird. Von Normerhöhung ist dabei nicht die Rede: „Heute spricht man von Benchmarking“, weiß Thomas Böhm, Chirurg und Betriebsrat im Klinikum Stuttgart. „Die Krankenhausleitung sagt dann, dass Behandlung X im Kreiskrankenhaus Buxtehude nur 400 Euro kostet und in zwei Tagen erledigt ist. Wir müssen das dann genauso schnell schaffen.“

Selbst einfachste Jobs bleiben vom Normendruck nicht verschont. Putzfrauen müssen heute zum Teil doppelt so viele Quadratmeter Boden pro Stunde reinigen wie vor zehn Jahren. Das können 200 bis 300 Quadratmeter sein. Gewerkschafter Böhm würde es daher nicht wundern, wenn es im Deutschland des Jahres 2003 zu einem Putzfrauenaufstand käme: Nieder mit den Normen!

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