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Zwei rechts, zwei links. Immer mehr Menschen produzieren im Berufsleben nur noch virtuelle Dinge – da wollen sie in ihrer Freizeit etwas zum Anfassen herstellen. Das freut vor allem Firmengründer. Foto: dpa/Kai Remmers

© picture alliance / dpa-tmn

Wirtschaft: Strick dich reich

Handarbeit liegt im Trend. In Berlin eröffnen immer mehr Läden, und auch im Netz läuft das Geschäft.

Berlin - Von der Piratin Marina Weisband weiß man schon länger, dass sie sich schnell mal ein neues Kleid schneidert und gerne strickt. Kürzlich, auf dem Parteitag in Bochum, rief Anke Domscheit-Berg zum Stricken auf, sie twitterte: „man kann übrigens alles umstricken/-häkeln, stuhlbeine, stecker, stehmikrofone, gerueste, gelaender“. Auch wenn die Piraten ein knappes Jahr vor der Bundestagswahl damit zu kämpfen haben, dass sie nicht mehr so trendy sind, ihre Freizeitbeschäftigung ist es. Nach Angaben des Branchenverbandes Initiative Handarbeit wurde 2011 in Deutschland mehr als eine Milliarde Euro für Handarbeitsbedarf ausgegeben, 615 Millionen davon für Stoffe, Nähmaschinen und Zubehör.

Der Markt wächst. Für Geschäftsführer Gerd Eberhardt ist die neue Lust an der Handarbeit Ausdruck eines Wertewandels in der Gesellschaft. „Das wichtigste Motiv für den neuen Do-it-yourself-Trend ist die Veränderung unserer Arbeitswelt“, sagt er. „Seitdem die meisten Menschen nicht mehr mit der Produktion von Waren, sondern mit der Herstellung von Wissen, Ideen und Dienstleistungen beschäftigt sind, ist ein Vakuum entstanden.“ Stricken und Nähen sind deshalb plötzlich wieder cool. Wer das noch nicht beherrscht, geht zu einem der vielen Workshops, die angeboten werden. Seit einiger Zeit eröffnet beispielsweise in Berlin ein Laden nach dem anderen, der Wolle und Stoffe verkauft, Selbstgestricktes und Selbstgenähtes.

Im November vergangenen Jahres machte die Litauerin Ruta Sluskaite ihren Wollladen in Friedrichshain auf. Der Name des Geschäfts beschreibt den Hype um Selbstgemachtes besser als jeder Werbeslogan: Wollen. Kunden, die zu Sluskaite kommen, wollen stricken lernen, wollen Wolle kaufen, wollen die von ihr designten Mützen, Schals und Pullover tragen. Erschaffen statt konsumieren, so erklärt sich Sluskaite die Nachfrage nach Selbstgemachtem. „Die Menschen sind müde, alles einfach nur zu kaufen“, sagt sie.

Ruta Sluskaite hat als Juristin gearbeitet, vor drei Jahren kam sie nach Berlin. Sie wollte sich den Traum von einem eigenen Wollladen erfüllen. Für das Startkapital arbeitete sie einen Winter lang in Österreich in einem Hotel. Die andere Hälfte kam von einer Wollfirma – das Geld muss Sluskaite nun in Raten zurückzahlen. Das Geschäft läuft, zwei Angestellte hat Sluskaite inzwischen. Erst vor kurzem war die Party zur Ein-Jahres-Feier. Im Hinterzimmer, wo die Workshops stattfinden, liegen noch bunte Ballons herum.

Als Sluskaite ihren Laden eröffnete, habe es in Friedrichshain kaum Wollgeschäfte gegeben. Inzwischen sei die Konkurrenz größer geworden, „ich merke das total“, sagt Sluskaite. Und ein Wollladen ist, ähnlich einem Eiscafé, vom Saisongeschäft abhängig. An einem heißen Tag um Juli betrug der Umsatz 13,05 Euro. Deshalb hat sie über die warmen Monate noch einen Nebenjob: 20 bis 40 Pullover strickt sie dann für Haute-Couture-Labels.

Der Do-it-yourself-Trend sei deutschlandweit zu beobachten, sagt Gerd Eberhardt. Und die Selbermachen-Bewegung hat auch eigene Netzwerke im Internet. Etsy, ein amerikanischer Online-Marktplatz für Handarbeiten, ist Weltmarktführer. Dawanda, das deutsche Pendant, ist Marktführer in Europa. 2011 machte das Unternehmen 4,5 Millionen Euro Umsatz, in diesem Jahr, schätzt Gründerin und Geschäftsführerin Claudia Helming, werden es etwa sieben Millionen Euro sein. „In den Wochen vor Weihnachten erzielen wir 30 Prozent unseres Jahresumsatzes“, sagt sie. Seit September betreibt Dawanda in Berlin-Charlottenburg einen eigenen Laden. Dort wird eine Auswahl an Produkten der Plattform verkauft, donnerstags finden kostenlose Kurse statt.

Kathinka Petsch und Eike Braunsdorf gehören zu den etwa 85 000 Herstellern, die Dawanda als Verkaufsplattform nutzen. Unter dem Label Bonnie & Buttermilk verkaufen die beiden Berlinerinnen selbstdesignte Klamotten. Petsch und Braunsdorf haben seit Mitte 2009 mehr als 17 000 Produkte verkauft und gehören damit zu den erfolgreichsten Verkäufern auf der Plattform. Wenn Petsch auf den Straßen Berlins unterwegs ist, schaut sie sich die Menschen an, besser gesagt: ihre Klamotten. Sie achtet auf Farben, Muster, Schnitte. Manchmal erkennt sie dabei ihre eigene Arbeit wieder. Die satten Farben, die Retro-Muster, die Kapuzenkleider. Dann holt Petsch ihr Handy raus und schreibt Eike Braunsdorf eine SMS.

Vor allem Großstädter nutzen Dawanda als Vertriebskanal: Nach Leipzig ist Berlin die Stadt mit der höchsten Dichte an Dawanda-Verkäufern in Deutschland. 85 Prozent sind weiblich und zwischen 20 und 40 Jahre alt, die meisten haben Kinder. Petsch und Braunsdorf sind so etwas wie der kreative Durchschnitt: beide 34, beide Mütter.

Anfangs nähten sie alles selbst, zu Hause im Wohnzimmer, die Stoffe schnitten sie im Kinderzimmer auf dem Boden zu. Inzwischen haben sie 14 Angestellte und ein Atelier in Mitte. Die Muster der Stoffe kreieren die beiden selbst, dann schicken sie sie an ein kleines Unternehmen in Süddeutschland, das sie bedruckt. „Es war sehr schwierig, eine Firma zu finden, die auch kleine Mengen preiswert herstellt“, sagt Braunsdorf, die an diesem Tag den rosa-geblümten Retro-Sixties-Rock aus der neuen Kollektion trägt.

Für ihr Label benötigten die beiden kein Startkapital. Sie entwarfen einen Prototyp und luden das Foto in ihrem Onlineshop hoch. Das kostete sie gerade 30 Cent. Der Centbetrag ging an Dawanda, dafür war ihr Produkt 120 Tage lang sichtbar. Seitdem setzen Petsch und Braunsdorf auf das Dawanda-Prinzip: Erst wenn eine Bestellung eingeht, produzieren die beiden, Dawanda bekommt fünf Prozent Provision. Mit einem eigenen Laden, schätzt Petsch, hätten sie wohl nicht so schnell Erfolg gehabt.

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