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Textilien sind mehr als Kleidung und Stoffe. Sie sind längst auch in Implantaten und Beton zu finden. Foto: iStock

© Getty Images/iStockphoto

Technische Fasern: Die Zukunft der Textilbranche einfädeln

Für immer mehr Unternehmen sind technische Textilien unersetzbar: Sie stecken in Pflastern und Schutzkleidung. Deutsche Produzenten sind Weltmarktführer.

Zweieinhalb Stunden Sport macht Alexander Gerst jeden Tag. Um bis zur Rückkehr zur Erde Mitte Dezember auch in 400 Kilometer Höhe fit zu bleiben und die Muskeln zu trainieren, gibt es auf der Raumstation ISS sogar ein Laufband. Selbst beim Training ist der Astronaut in besonderer Mission unterwegs. Denn der 42-Jährige streift sich kein gewöhnliches Shirt über, er trägt spezielle Funktionswäsche. Und testet, ob diese auch kühlen kann. „Er muss im All ganz schön schwitzen, um die Kühlleistung des Funktionsshirts zu aktivieren“, sagt Jan Beringer von den Forschungsinstituten Hohenstein. „Der menschliche Körper gibt unter Belastung Wärme ab und versucht so, sich herunterzukühlen.“ Der Wärmeaustausch an der Körperoberfläche sei durch die Schwerelosigkeit aber verändert. Deshalb komme es auch schneller zu einem Hitzestau als auf der Erde.

Beringer ist Leiter des Projekts „Spacetex2“, an dem auch die Berliner Charité, das Deutsche Zentrum für Luft- und Raumfahrttechnik und die Europäische Raumfahrtorganisation beteiligt sind. Die Forscher erhoffen sich von dem außerirdischen Experiment Erkenntnisse für die Weiterentwicklung textiler Hightech-Stoffe – auch technische Textilien genannt. Kann Funktionswäsche kühlen und wärmen in einem? Können Hightech-Materialien unter extremen klimatischen Bedingungen eingesetzt werden? Wo wären solche Einsätze denkbar?

Vielleicht auf dem Mars und dem ersten bemannten Flug zum Roten Planeten. Dafür bräuchten die Astronauten spezielle Raumanzüge, die sie vor extremer Kälte schützen. Die Temperaturen könnten im Sommer tagsüber in Äquatornähe zwar bis auf 27 Grad Celsius steigen, im Winter an den Polen dagegen bis auf minus 133 Grad fallen, heißt es beim Deutschen Luft- und Raumfahrtzentrum.

Fasern werden in der Baubranche genutzt

Technische Textilien könnten aber auch den ganz gewöhnlichen Alltag auf diesem Planeten bei Hitze erträglicher machen – und kühlen. Bei Temperaturen von 38 Grad und mehr, wie in diesem Sommer, ist das gerade für Menschen wichtig, die draußen arbeiten. Schon heute werden Hightech-Materialien eingesetzt: In Pflastern stecken sie, in Wundverbänden, die den Heilungsprozess beschleunigen, in Implantaten, die Blutgefäße erweitern, und in Fäden für Wundnähte, die sich selbst auflösen können.

Technische Textilen sind in der Medizin, im Automobilbereich und in Branchen wichtig, in denen Mitarbeiter Schutzkleidung brauchen – wie etwa Feuerwehrleute, Stahlarbeiter oder Polizisten. „Kein Flugzeug, kein Auto bewegt sich ohne Textil, es steckt in Sitzen, an Motoren oder tragenden Teilen“, sagt Uwe Mazura, Hauptgeschäftsführer des Gesamtverbands der deutschen Textil- und Modeindustrie. Ein Beispiel sei das Großflugzeug A 380, der zur Hälfte aus textilen Materialien wie etwa Kohlenstofffaser bestehe und dadurch deutlich leichter sei.

Materialien aus technischen Fasern spielen auch in der Baubranche eine Rolle. Ein Beispiel ist der 246 Meter hohe Testturm von Thyssen-Krupp im schwäbischen Rottweil. Das Bauwerk ist nicht nur dafür bekannt, dass es die höchste Aussichtsplattform in Deutschland hat. Der Essener Konzern erprobt in Rottweil Aufzüge, die in einer Sekunde bis zu 18 Meter zurücklegen. Eine Besonderheit ist die Membran, die den Turm einhüllt. Sie besteht aus Glasfasergewebe, schützt die Betonröhre vor Wind und Wetter, weist Schmutz ab und reflektiert das Licht je nach Tages- oder Jahreszeit. Textile Werkstoffe können Beton verstärken: In Albstadt auf der Schwäbischen Alb steht die längste Textilbetonbrücke der Welt. 100 Meter ist sie lang, 16 Meter hoch und verbindet zwei Ortsteile. Das Bauwerk ist wetterfest und im Gegensatz zu Stahlbeton korrosionsbeständig – auch im Winter und trotz Streusalzeinsatz.

Textilien sind mehr als Kleidung und Stoffe

All diese Beispiele zeigen: Textilien sind mehr als Kleidung und Stoffe. Die Hersteller von Hightech-Materialien sind für viele Branchen inzwischen der wichtigste Zulieferer geworden. Klassische Zentren für technische Textilien sind der Südwesten, NordrheinWestfalen, Sachsen und Thüringen, wo die Textilindustrie Tradition hat.

Bei technischen Textilien sind deutsche Produzenten Weltmarktführer. Mit einem Umsatz von 13 Milliarden Euro im Jahr wird jeder zweite Euro, der in der Textil- und Bekleidungsbranche insgesamt erlöst wird, von diesen Unternehmen erwirtschaftet. Und zwar von 500 Firmen. Zum Vergleich: Der Jahresumsatz der deutschen Bekleidungsindustrie liegt bei zwölf Milliarden Euro, die Schuh- und Lederwarenindustrie erzielt drei Milliarden Euro – genauso viel wie Firmen aus der Heimtextil-Branche, die Gardinen, Möbel- und Dekostoffe, Teppiche oder Strickereien herstellen.

Technische Textilien, einst aus der Not geboren, sind längst kein Nischenprodukt mehr. Sie haben sich zum Wachstumsmotor einer Branche entwickelt, die einen gewaltigen Strukturwandel hinter sich hat. Ende der 60er Jahre arbeiteten in der Textil- und Bekleidungsindustrie eine Million Menschen. Inzwischen beschäftigten 1400 Unternehmen in Deutschland noch 135 000 Personen. Seit 2013 steigt die Zahl der Beschäftigten jedes Jahr um knapp ein Prozent. Die Spitzenposition deutscher Firmen bei Hightech-Materialien hängt auch mit der Forschung und Entwicklung zusammen. 16 Textilforschungsinstitute gibt es hierzulande, die vergangenes Jahr einen Forschungsetat von mehr als 90 Millionen Euro hatten. „Den Instituten und unseren Unternehmen ist es zu verdanken, dass die Transformation von einer Traditions- zu einer Hightech-Branche mit Weltmarktführern gelungen ist“, sagt Textilverbandschef Mazura, der auch Geschäftsführer des Forschungskuratoriums (FKT) ist, mit einem gewissen Stolz.

Die Wissenschaftler setzen bei ihrem Test nicht nur auf schweißtreibende Experimente im All, sie lernen auch von der Natur – wie etwa von einem kleinen Schwarzkäfer in Namibia. Von ihm haben sich Forscher vom Institut für Textil- und Faserforschung in Denkendorf inspirieren lassen. Um Wasser in der Wüste zu gewinnen, haben sie einen Nebelfänger aus technischen Textilien entwickelt. Denn dem Käfer gelingt es, Kondenswasser einzufangen. Er sammelt Tautröpfchen, die sich auf seinem Rückenpanzer anhaften. Wenn sie größer werden, rollen sie in seinen Mund – und sichern so das Überleben für den nächsten Tag.

Kerstin Ruchay

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