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Bestens orientiert. Der Ex-Banker Harald Hagner verkauft nautische Karten in seiner Buchhandlung – und im Netz.

© Thilo Rückeis

Umsattler: Der Geschmack des Neuanfangs

Hunderttausende Beschäftigte in Deutschland wechseln jährlich ihr Berufsfeld. Viele tun es bewusst und freiwillig.

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Berufskarrieren verlaufen nicht immer geradlinig. Besonders auf einem Arbeitsmarkt, der hohe Flexibilität und Mobilität verlangt. In Berlin gibt es zahlreiche Lebensgeschichten, die davon zeugen: Ein studierter Stadtplaner arbeitet heute als Buchbinder, eine Marketingfachfrau backt Kuchen in der eigenen Konditorei, ein Bauingenieur unterrichtet als Körpertherapeut Alexandertechnik oder ein Architekt betreibt ein Café in Schöneberg.

Berlin ist ein guter Ort, um neue Berufsfelder auszuprobieren und in eine andere Branche umzuschwenken, ohne dass man dafür geächtet wird, hat Beate Westphal festgestellt. Sie berät in ihrem Talentcafé Menschen, die umsatteln. Sie selbst hat früher als Sportlehrerin gearbeitet und weiß deshalb, worauf es bei einem Wechsel ankommt. Wie viele Menschen in Deutschland im Laufe ihres Berufslebens die Branche wechseln, ist nicht genau bekannt. Das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) hat ermittelt, dass drei Prozent pro Jahr umsatteln. Dazu zählen sowohl Beschäftigte, die wechseln müssen, weil ihnen gekündigt wurde oder ein befristeter Vertrag ausgelaufen ist, als auch freiwillige Wechsler, die mit 54 Prozent etwas häufiger vorkommen als die unfreiwilligen. Meist führt ein freiwilliges Umsatteln zu einem höheren Lohnniveau als im alten Beruf, fanden die IAB-Forscher in einer vergleichenden Studie mit Großbritannien heraus. Allerdings bleibt die Lohnentwicklung hinter der von Nichtwechslern zurück.

Die Motive sind vielfältig

Die Motive für einen beruflichen Neuanfang sind so vielfältig wie die Berufsbiografien. Der Journalist Dennis Buchmann beispielsweise wollte selbst etwas anpacken. Heute vertreibt er online Wurst in Gläsern, auf deren Deckel ein Foto des Schweins prangt, von dem das Fleisch stammt. So weiß der Konsument, was beziehungsweise wen er isst. Buchmann will damit das Bewusstsein für Nahrungsmittel schärfen. Bei Daniela Zellerhoff haben sich die Prioritäten verschoben, als ihre Kinder auf die Welt kamen. Die Drehbuchautorin stellt jetzt Lampenschirme her und verkauft sie im eigenen Laden. Der Banker Harald Hagner nahm eine Auszeit, bis er feststellte, dass er lieber ein lang ersehntes Studium nachholen wollte. Jetzt besitzt der Hobbysegler einen Nautischen Buchladen in Dahlem. Und Olaf Zorn war Geschäftsführer eines Spielwarengroßhandels mit 100 Mitarbeitern. Nach 15 Jahren hatte er genug, heute bietet er für die Belegschaft von Unternehmen Gesundheitssport an.

Jobcenter sind die falsche Adresse

Wer umsatteln möchte und Beratung oder gar eine Förderung sucht, ist beim Jobcenter an der falschen Adresse. „Wenn jemand in seinem erlernten Beruf unzufrieden ist, dann gibt es für uns keinen Anlass, ihn zu unterstützen“, sagt Frauke Wille, Sprecherin der Bundesagentur für Arbeit in Nürnberg. „Schließlich kann die Sozialversicherung nicht für persönliche Lebensentscheidungen haften.“ Anders verhalte es sich bei Menschen, die ihren alten Beruf nicht mehr ausüben können, etwa wegen einer Allergie. Dann könne eine Umschulung finanziert werden. Da diese sehr teuer sind, sei die Arbeitsagentur aber bemüht, die Leute möglichst im gleichen oder einem ähnlichen Berufsfeld zu beschäftigen. Andererseits räumt Wille ein, dass „in Deutschland eine Kultur der Zertifikate, Diplome und Zeugnisse herrscht“, was einen Quereinstieg erschwere. In anderen Ländern sei ein Branchenwechsel bedeutend einfacher.

Es ist wichtig, einen langen Atem zu beweisen.

Umsattler sollten sich besser an eine Gründerberatung oder an Einrichtungen wie das Talentcafé von Beate Westphal wenden, weil man dort Gleichgesinnte trifft, die sich beruflich verändern wollen. „Man sollte sich in jedem Fall beraten lassen“, sagt Westphal, „um sich über seine Werte und Motive vollkommen bewusst zu werden.“ Dabei ist es wichtig, einen langen Atem zu beweisen, was viele Umsattler ihrer Erfahrung nach nicht mehr mitbringen. „Dabei sind drei Jahre sparen für einen Traum doch nicht lange“, meint Westphal, „wenn man hinterher 30 Jahre Spaß haben kann.“

Aufschreiben, was Spaß macht.

Auf einem kleinen Blatt Papier begann Olaf Zorn seinen großen Rollenwechsel. „Meine Frau meinte, ich solle alles aufschreiben, was mir Spaß macht“, erzählt der 46-Jährige. Erstaunlich leer sei das Blatt geblieben, nur Familie und Sport brachte Zorn hervor. „Ich wollte aber nicht der x-te Personal Trainer werden.“ Also begann er zu recherchieren, zu grübeln, abzuwägen. „Letztlich habe ich die Entscheidung mit mir selbst ausgemacht“, sagt Zorn. Auf dem Höhepunkt seines vorherigen Berufs war der Berliner einer der Geschäftsführer von Hoffmann Spielwaren im nordrhein-westfälischen Lotte. Für das Unternehmen baute Zorn eine Tochterfirma in Nauen auf, war direkt verantwortlich für 100 Mitarbeiter und verdiente 200 000 Euro im Jahr. In seiner neuen Rolle trägt er nun Laufschuhe und berät die Belegschaft von Unternehmen in Sport- und Gesundheitsfragen. „Am meisten genieße ich es, morgens in aller Frühe mit einer Gruppe netter Leute durch den Grunewald zu laufen und nicht mehr im Anzug zu stecken“, schwärmt Zorn.

Weniger Geld aber mehr Freiheit

Harald Hagner hat 20 Jahre bei der Deutschen Bank gearbeitet. Es seien 20 gute, aber auch anstrengende Jahre gewesen. „Der Zeit- und Kostendruck war enorm“, sagt Hagner heute. Irgendwann habe er sich gefragt, ob er noch einmal 20 Jahre so weitermachen kann, weitermachen will. Mit 40 beschließt er ein neues Leben anzufangen und erfüllt sich einen Traum: Er zieht nach Berlin und studiert an der Humboldt-Universität Kulturwissenschaften, Geschichte und Bibliothekswissenschaften. Heute sitzt Hagner in seinem kleinen Laden in Dahlem. „Nautische Buchhandlung“ steht in weißen Lettern auf blauem Grund an der Fassade. Der 51-Jährige verkauft hier Seekarten, Lehrmaterial für Segelschüler, Bildbände vom Meer und Romane über Seefahrerabenteuer. Aus dem Banker ist ein Buchhändler geworden. Hagner sagt, er mag die Arbeit im Laden. „Ich kann selbst entscheiden, wann ich was wie mache“, sagt er. Das sei Freiheit. Dass er viel weniger verdient als früher, nimmt er in Kauf. Trotzdem denkt er bereits darüber nach, was er als Nächstes tun könnte, denn er ist auf den Geschmack gekommen, den Geschmack des Neuanfangs.

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