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Wirtschaft: "Was nicht ausdrücklich verboten ist, ist erlaubt"

Wenn Gunnar Kobin an das Schicksal seines Automagazines denkt, ist der Vorstandsvorsitzende der estnischen Verlagsgruppe Ekspress Grupp verärgert und glücklich zugleich.Verärgert, weil er das Magazin mangels Leser einstellen mußte.

Wenn Gunnar Kobin an das Schicksal seines Automagazines denkt, ist der Vorstandsvorsitzende der estnischen Verlagsgruppe Ekspress Grupp verärgert und glücklich zugleich.Verärgert, weil er das Magazin mangels Leser einstellen mußte.Und glücklich, weil der Grund dafür auch künftig seine Bilanzen schwarz färben wird: "Die Esten haben keine Zeit zum Lesen von Automagazinen", erklärt der 27jährige, "weil sie so damit beschäftigt sind, Geschäfte zu machen".Dafür werden dann weitere Anzeigen geschaltet, von denen Ekspress profitiert.

Estland ist ein Land in Eile: Während es 1990 noch in der Steinzeit der Planwirtschaft steckte, hat das Land in nur acht Jahren den Sprung ins Zeitalter der Globalisierung geschafft.Nach ihrem Zusammenbruch wächst die estnische Wirtschaft bereits seit 1994 wieder: 1997 gar um 11,4 Prozent, ein Spitzenwert in Europa.2003 will das Land in die Europäische Union, als Erster der Sowjet-Nachfolgestaaten.

Wie kein anderes Volk haben die Esten nach 1991 auf einen konsequent marktwirtschaftlichen Kurs gesetzt.Die Wirtschaft funktioniert seitdem nach einem denkbar einfachen Konzept: Alles, was nicht ausdrücklich verboten ist, ist erlaubt.Ein gutes Klima für Unternehmensgründungen wie die Hansabank, die im Juli 1991 mit 13 Angestellten angefangen hat und heute mit 3000 Mitarbeitern die größte Bank des Baltikums ist."Alles war möglich", erinnert sich der erst 32jährige Vorstandsvorsitzende Indrek Neivelt.

Der Erfolg der liberalen Wirtschaftsstrategie ließ nicht lange auf sich warten.Mit einem Plus von 300 Prozent an der Börse und 11,4 Prozent beim Bruttosozialprodukt war Estland 1997 der Wachstumsstar in Europa.Dann kam die Asienkrise und mit ihr ein drastischer Einbruch.Das Wirtschaftswachstum kühlte auf magere vier Prozent ab.Und das heizte den Appetit anderer an: Die Hansabank ist vom Jäger zum Gejagten geworden - und inzwischen in der Hand von schwedischen Banken.Als Pragmatiker hat Banker Neivelt längst die Vorteile der neuen Allianz erkannt: "Mit der schwedischen Unterstützung können wir nun gezielt im Baltikum expandieren."

Besonders hart ist die estnische Nahrungsmittelindustrie von der Rußlandkrise gebeutelt."Wir haben unsere Mitglieder immer gewarnt, sich nur auf diesen einen Markt zu verlassen", berichtet Mart Relve, der Generaldirektor der Estnischen Industrie- und Handelskammer.Auf keinen Fall solle es jetzt Subventionen für diese Unternehmen geben."Das ist was für die Lahmen und Einfalslosen", schimpft Relve, der mit seinen erst 25 Jahren bereits drei erfolgreiche Karrieren hinter sich hat - er war PR-Spezialist, Vertriebsbeauftragter und Leasingmanager.

Ein Turbo-Kapitalist ohne soziales Gewissen will er allerdings nicht genannt werden: "Klar, den 50jährigen, die ihr Leben in der Sowjetunion gelebt haben, und den Rentnern können wir nicht helfen", meint Relve, "aber je besser es uns, den Kindern und Enkeln, geht, desto eher können wir diese Generation unterstützen." Deshalb sei es sinnvoller, Geld in die Ausbildung zu stecken, als die Renten zu erhöhen.

Das scheint Konsens in Estland zu sein.Während Rentner gerade mal so über die Runden kommen und Arbeitslose mit kargen 65 DM im Monat überleben müssen, hat der kleine Staat in den vergangenen drei Jahren über 16 Mill.DM investiert, um selbst die kleinste Dorfschule mit modernen Computern und Internet-Zugang auszustatten.

"Tigersprung" heißt das in Mittel- und Osteuropa beispiellose Projekt.Dessen Chefin Enel Mägi ist davon überzeugt, daß Estland mit ihm erfolgreich in das 21.Jahrhundert kommen wird: "Schon heute haben wir hier eine höhere Internet-Dichte als in Spanien oder Japan." Und die Begeisterung der Kinder scheint auf die Erwachsenen abzufärben: Im Auftrag der Entwicklungsbehörde der Uno testete Tigersprung-Chefin Mägi vergangenen November, wie internet-fit die estnischen Behörden sind, und schickte allen eine kurze E-Mail mit der Bitte um ihre Telefonnummer.Das Resultat macht den Esten alle Ehre: Nach sechs Minuten war die erste Anwort da - sie kam vom Wirtschaftsministerium.

MARGARET HECKEL

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