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Eine supranationale Ordnung: Wider die Mär vom bösen Neoliberalismus

Der Historiker Quinn Slobodian beschreibt die Demokratie als Gefahr.

Ein Gespenst geht um in der Welt: das Gespenst des Neoliberalismus. Alle haben sich dagegen verschworen: die Rechten, weil er ihre Vaterländer zerstört; die politische Mitte, weil er die Rechte erstarken lässt; und die Linke, weil sie immer noch vom Sozialismus träumt.

Nun betritt ein junger kanadischer Historiker – nicht Wirtschaftswissenschaftler – die Bühne, um dem Neoliberalismus im Kampf gegen seine Geisterjäger beizustehen. Quinn Slobodian, 1978 geboren, lehrt unter anderem deutsche Geschichte am Wellesley College in Massachusetts, und er erklärt die Entstehung des Neoliberalismus aus dem Zusammenbruch des freien Handels nach dem Ersten Weltkrieg. Dazu muss man wissen, dass der Welthandel vor 1914 bereits so globalisiert war, wie er es erst nach 1990 wieder werden sollte. 1918 aber brachen die Donaumonarchie, das Russische Kaiserreich und das Osmanische Reich zusammen und hinterließen eine Vielzahl neuer Nationalstaaten, die peinlich auf Souveränität und Autarkie bedacht waren. Das blockierte die Entwicklung von Wohlstand und trug zur politischen Eskalation der Zwischenkriegszeit bei. Aus dieser historischen Lage heraus, argumentiert Slobodian, entwickelten Ludwig von Mises und Friedrich August von Hayek den Neoliberalismus, der kein neuer Liberalismus sein sollte, sondern eine Restauration des alten Freihandels vor 1914.

Demokratie legitimiert Umverteilung

Drei große Sündenfälle der Weltwirtschaftsentwicklung im 20. Jahrhundert, „die jeweils mit einer Expansion der ,Demokratisierung der Welt‘ einhergingen“, benennt Slobodian: die Aufgabe des Goldstandards im Ersten Weltkrieg, den Börsenkrach von 1929 – und die „Revolte des globalen Südens in den siebziger Jahren“, in der sich die Dritte-Welt-Länder, selbstbewusst geworden durch die Ölkrise, gegen die Industrieländer auflehnten. Für Slobodian sind die Dritte-Welt-Länder der 70er das, was die jungen osteuropäischen Staaten in den zwanziger Jahren waren. Eine Hauptgefahr aber sieht er in der Demokratie – „weil sie Forderungen nach Umverteilung“ legitimiere; denn „alle weltwirtschaftlichen Probleme haben ihren Ursprung in nationalen Verteilungskämpfen“.

Damit wird sich Slobodian keine Freunde machen. Doch seine historisch- genetische Argumentation ist plausibel: Wohlstand kam immer mit freiem Handel, und freier Handel konnte sich immer am besten in Großreichen oder Großräumen entfalten: seien es das Römische Reich, das spätmonarchische Europa vor 1914 oder heute, in kleinerem Maßstab, die Europäische Union.

Mächte und Märkte einhegen

Im Neoliberalismus sieht Slobodian daher nicht den Totengräber staatlicher Ordnung, sondern ein Konzept zur Institution einer supranationalstaatlichen Ordnung, die die Wirtschaft ordnungspolitisch einhegt (encasement), anstatt sie sinnlos zu entfesseln. Neoliberalismus sei gerade nicht Manchester-Laisser-faire, sondern das Gegenteil: Der Neoliberalismus habe dieselben Wurzeln wie der Ordoliberalismus, was sich am klarsten an der Genfer Schule zeige, die Slobodian aus dem Schatten der Freiburger und der Chicagoer Schule herausholen will. Der Neoliberalismus heißt bei ihm daher auch Ordoglobalismus. Der Globalismus aber habe, so konstatiert er in abschließenden 15 Punkten, „Vorrang vor dem Nationalismus. Nur der Kapitalismus ist internationalistisch. Der Sozialismus ist stets nationalistisch.“ Der prätendierte Internationalismus der Dritte-Welt-Länder sei in Wahrheit ein Angriff auf den real existierenden Internationalismus der (neo-)liberalen Weltwirtschaftsordnung.

"Gerechtigkeit" als Weg allen Übels?

Der Kanadier Slobodian denkt in Großreichen, man spürt Anklänge an Niall Ferguson oder Timothy Snyder: „Im neoliberalen Jahrhundert war der Kalte Krieg lediglich eine Nebenvorstellung; das Hauptprogramm bestand aus der Herausforderung durch die demokratische Mitbestimmung der Massen und das Ende der Imperien.“ In den Worten von Carl Schmitt will er das Dominium (= Privateigentum) vor Übergriffen des Imperiums (= staatliche Gewalt) geschützt wissen, und zwar durch die Welthandelsorganisation WTO als supraimperialer Organisation. Die „Verspottung der Sprache der Menschenrechte“ übernimmt er weder von Schmitt noch von Hayek; sein Ordoglobalismus tritt vielmehr als eigentlicher Hüter der Menschenrechte auf.

Freilich: Slobodian schreibt ein historisches Buch, Antworten auf die heutige Situation gibt er nur indirekt. „Soziale Gerechtigkeit“ ist für ihn „eine teleokratische Forderung, die den Weg zum Totalitarismus ebnete“, und „das Streben danach ein atavistischer Reflex, der die Menschheit aus der erweiterten Ordnung und der Great Society herauslöste und auf das Niveau der ,Stammesgesellschaft‘ zurückwarf.“

Schutz der persönlichen Freiheit

An diesem angloamerikanischen Gesellschaftskonzept, für das Romantik und Kapitalismus kein Gegensatz sind, könnte sich der deutsche Diskurs zwar eine gehörige Scheibe abschneiden; trotzdem vermisst man bei Slobodian eine Antwort auf die Frage nach der Ungleichverteilung von Vermögen (nicht Einkommen), die fortwährend Geld dem Wirtschaftskreislauf entzieht; Geld, das ein funktionierender Kapitalismus dringend nötig hat.

Was bleibt, ist eine einleuchtende Ehrenrettung des Neoliberalismus, der nicht den Einzelnen des Schutzes durch den Staat berauben, sondern seine persönliche Freiheit vor staatlichen Eingriffen durch eine globalstaatliche Ordnung beschützen will. Und dass dies kein ganz so übles Konzept ist, dürfte jedem, der sich heute die Politik Chinas, Russlands oder des Iran anschaut, hoffentlich einleuchten.

Quinn Slobodian: Globalisten. Das Ende der Imperien und die Geburt des Neoliberalismus,, Suhrkamp 2019, 522 Seiten, 32 Euro

Konstantin Sakkas

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