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Wirtschaft: Wirtschaftssysteme: Modell USA zwischen Neid und Abneigung

Nach einer traumatischen Präsidentschaftswahl und dem Absturz der Internet-Aktien macht sich in Europa Schadenfreude breit. Eine Karikatur in der französischen Zeitung "Le Monde" zeigt einen aufgeregt ins Oval Office platzenden Mann, der Finanzdaten in Richtung Präsidentensessel schreit.

Nach einer traumatischen Präsidentschaftswahl und dem Absturz der Internet-Aktien macht sich in Europa Schadenfreude breit. Eine Karikatur in der französischen Zeitung "Le Monde" zeigt einen aufgeregt ins Oval Office platzenden Mann, der Finanzdaten in Richtung Präsidentensessel schreit. Von dort kommt nur die Anwort: "Nachzählen!". Doch noch immer möchte der Rest der Welt den USA und ihrem bemerkenswerten ökonomischen Erfolg nacheifern. Keiner redet mehr von einer Übernahme des deutschen oder japanischen Modells. Auch wenn der US-Aktienmarkt einige der euphorischen Gewinne der letzten Jahre wieder abgeben musste und das Gerede um eine Rezession nach den jüngsten Greenspan-Äußerungen wieder lebhafter wurde: Fast jedes Land wünscht sich eine wachsende New Economy mit einer Explosion von Startups in allen Bereichen der Technologie. Dabei ist der Neid auf die USA gemischt mit Zweifeln und Abneigung gegenüber den Kehrseiten des wirtschaftlichen Erfolgs. Deutschland und andere Nationen "rutschen in amerikanische Verhältnisse, ohne diese kritisch zu beobachten", sagt die Grünen-Abgeordnete Annelie Buntenbach.

In Deutschland wird diese Doppelwertigkeit anschaulich. Das rheinische System mit seiner Einbindung der Gewerkschaften und einem großzügigen "Vater Staat" brachte das Land aus der Verwüstung zur industriellen Macht. Zwar liegt die Arbeitslosigkeit noch immer über acht Prozent, doch der arbeitslose Deutsche lebt oft besser als ein amerikanischer Niedriglohnarbeiter. Trotzdem konnte auch hier die New Economy Einzug halten: Das Land beheimatet 56 der 150 größten europäischen Internetfirmen. Die Hälfte von ihnen schreibt Gewinne. Über 330 Unternehmen werden am Neuen Markt gehandelt - viel mehr als an anderen europäischen Börsen. Auch die Deutschen, von denen heute bereits jeder fünfte Aktien oder Fondsanteile besitzt, schätzen ihre eigene Art des Kapitalismus, die tiefe Wurzeln hat. Europäer und Asiaten suchen das Gute der amerikanischen New Economy, ohne dabei deren Nachteile zu erleiden - etwa Armut und Slums, das Chaos der entfesselten Märkte, die große Einkommenskluft zwischen Arbeitern und Management sowie massenhafte Einwanderung. "Wir wollen eine Marktwirtschaft, keine Marktgesellschaft", hat der französische Premierminister Lionel Jospin oft betont.

Fraglich bleibt, welche Aspekte der US-Wirtschaft verantwortlich für den Erfolg sind. Ist es entscheidend, dass Professoren von Elite-Universitäten Unternehmen gründen können? Spielen Stock Options eine wichtige Rolle? Und wird das amerikanische Wirtschaftswunder mit dem Ende des Aktienbooms besiegelt? "Auch wenn das ungehemmte Wachstum des Aktienmarktes ein Ende haben sollte, es wird sich nicht entscheidend auf die Grundlagen der amerikanischen Produktion oder auf die Beschäftigung auswirken. Es wird nur dafür sorgen, dass Politiker und Manager in anderen Ländern dem amerikanischen System mit weniger Ehrgeiz nacheifern wollen", meint Brad de Long, Wirtschaftshistoriker an der Berkeley-Universität.

Michael Otto, Vorstandsvorsitzender des Otto Versand, ist vom amerikanischen System angezogen und abgestoßen zugleich. Die deutsche Regierung sei zu großzügig mit Unterstützungen, sagt er, doch die amerikanische sei zu geizig. Amerikanisches Marketing gelte als vorbildlich, aber der Druck der Aktienmärkte auf das Management verleite oft zu kurzfristigen Entscheidungen statt zu langfristigen Strategien. "Ich bin nicht glücklich darüber, dass sich Deutschland auf diesem Weg befindet", sagt Otto. "Derzeit erscheinen Fusionen überall als reizvoll, selbst wenn sie keinen Sinn haben. In zehn Jahren wird jeder über die Vorteile von kleinen beweglichen Einheiten reden."

Große Teile Europas und Asiens sehnen sich nach einem unamerikanischen Weg zum Wachstum - mit mehr Zustimmung und mehr Regierung als in den USA, weniger Härte und einem geringeren Risiko des Scheiterns. Einige Europäer sind überzeugt, dass für den alten Kontinent sozialer Zusammenhalt und Solidarität zwingend sind, auch wenn dies zu Lasten des schnellen ökonomischen Wachstums geht. "Die Europäer wollen eine behutsamere Revolution," sagt der ehemalige US-Botschafter in Deutschland John Kornblum. "Als ob es je eine Revolution gegeben hätte, die behutsamer war."

Zweifelsohne würden auch die Amerikaner eine New Economy vorziehen, die eine Krankenversicherung kennt und den Managern die Zeit böte, ihre Kinder zu sehen. Nach Jimmy Carters Deregulierung, Ronald Reagans Sieg über die Fluglotsen-Gewerkschaft und Bill Clintons Sozialreform können sich nur wenige von ihnen eine Alternative zum heutigen Modell vorstellen. Zudem bestärkt die Flut von ausländischen Investitionen in die US-Wirtschaft den Eindruck, dass der Kapitalismus nach US-Muster im Internetzeitalter der richtige Weg ist. Bewiesen ist damit freilich noch nichts.

"Es gibt Raum für verschiedene Arten des Kapitalismus", meint der Harvard-Ökonom Richard Freeman. Wahrscheinlich komme Deutschland mit einem zeitraubenden System der sozialen Partnerschaften besser zurecht als die USA. Andererseits sei das US-Modell, in dem jeder Arbeiter auf sich selbst gestellt ist, nicht unbedingt auf Deutschland übertragbar, so der Professor. Nicht alle glauben dies. Die deutsche Geschäftswelt wird ungeduldig, wenn Politiker und Öffentlichkeit an dem festhalten wollen, was als traditionelle Marktwirtschaft angesehen wird. Bereits jetzt investieren die großen Unternehmen weit mehr in den USA als US-Unternehmen in Deutschland. Die Geschichte um die Ladenöffnungszeiten zeigt beides: den Drang zu Veränderung und die Stärke des Widerstands. Trotz der Forderungen nach einer Verlängerung der Öffnungszeiten will sich Bundeskanzler Schröder die Unterstützung der Gewerkschaften sichern und verspricht, das Thema in den nächsten zwei Jahren nicht anzutasten. Der Sprecher des deutschen Einzelhandelsverbandes, Hubertus Pellengahr, sieht die Problematik als Symbol für den mangelnden Mut der Politik. Er ist dennoch zuversichtlich: "Deutschlands Fähigkeit, sich zu wandeln, ist viel größer als der Stillstand bei den Öffnungszeiten vermuten lässt."

David Wessel

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