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Wirtschaft: Wolfgang Scholl

(Geb. 1954)||Ein David gegen die Goliaths vom Versicherungs- wesen.

Ein David gegen die Goliaths vom Versicherungs- wesen. Beim Bergwandern marschierte er schwungvoll zum Gipfel. Kaum am Südstrand Neuseelands angekommen, sprang er sofort ins eiskalte Wasser. Das Mittelmeer im April besegeln? Warum nicht! „Er machte alles mit 200 Prozent“, sagt die Freundin. Nichts lag ihm ferner, als seinem Herzen zu misstrauen.

Er misstraute anderem: Wolfgang Scholl war Referent für Versicherungen und Finanzen beim Bundesverband der Verbraucherzentralen. Mehr Transparenz im Versicherungswesen, Standardisierung, Vergleichbarkeit von Verträgen – das waren seine Themen. Einer millionenschweren Branche stellte er sich entgegen. Ein David gegen viele Goliaths.

Schon als Gymnasiast zeigte er großes Interesse an politischen Themen: „In der DDR ist vieles besser!“, posaunte er zu Hause. „Na, dann!“, antwortete der Vater und verlegte den geplanten Familienurlaub kurzerhand in den Osten, zu Verwandten in Gera. Systemkritisch geläutert, aber moralisch gefestigt, kam der Sechszehnjährige aus den Ferien zurück.

Das Herz schlug links. Es benötigte aber seine Zeit, bis es herausfand, für welche Sache es schlagen sollte. In Siegen aufgewachsen und Wirtschaft studiert, begann Wolfgang Scholl seine Berufslaufbahn ausgerechnet in einer Wirtschaftsberatungsfirma fürs Immobiliengeschäft. Was er dort an windiger Steuer- und Finanztaktik kennenlernte, erschütterte ihn: „Alles kann ich machen, nur das nicht weiter!“

Die nächste Station, eine große Versicherungsgesellschaft, erwies sich als richtiger Schritt, aber leider in die falsche Richtung. Das an sich kluge Solidaritätsprinzip der meisten Versicherungsvereinbarungen entpuppte sich als eher einseitig. Auch dass man erst mit monatelanger Verzögerung auf neue Gesetze reagierte, entsprach nicht seiner Vorstellung. Er bewarb sich 1987 bei der Verbraucherzentrale Nordrhein-Westfalen.

Um sein Fachgebiet, die Versicherungen, kümmerte sich dort noch kaum jemand. Vornehmlich beriet man Kaufhauskunden, die von der modernen Haushaltstechnik enttäuscht waren. Aber da gab es auch die 70-jährigen Witwen, die sich einen Baussparvertrag hatten aufschwatzen lassen. Manchen half er durch eine einzige Frage: „Brauchen Sie das Produkt wirklich?“ Bei anderen musste er nachhaken und zum Telefonhörer greifen: „Ich fürchte, der Vertrag entspricht nicht ganz den gesetzlichen Vorgaben! Wollen Sie sich dazu äußern?“

Auch wenn er im Ton immer freundlich blieb, innerlich brachte es ihn auf die Palme, wenn er merkte, dass jemand über den Tisch gezogen wurde. Einen „Siegerländer Dickkopf“ bescheinigten ihm die Kollegen. Mit dem bekamen auch sie selbst es nicht selten zu tun.

Eine Referentenstelle beim Bundesverband lockte ihn nach Berlin. Nun beriet er Politiker. Auf Tagungen und Symposien lauschte er geduldig den sonoren Stimmen der Versicherungsleute mit ihren verkürzten Darstellungen und fadenscheinigen Argumenten. Er lächelte und wies höflich auf einige Unstimmigkeiten hin. Man nannte ihn: „der Experte“.

In seinem Dickkopf steckten Gesetzestexte, EU-Richtlinien und eine Vielzahl dadaistisch anmutender Versicherungstermini: „Erlebensfallversicherung“, „Deckungsrückstellung“, „Ablaufmanagement“. Dennoch, oder gerade als Ausgleich, liebte er die Musik, besonders die des Barock. Er sang selbst laut unter der Dusche, auf Reisen besuchte er Kirchen, um darin ein Ständchen zu schmettern und die Akustik zu testen.

Und Wolfgang Scholl liebte auch die wohlgesetzten Worte, besonders die mit Humor. Kurt Schwitters Gedicht „An Anna Blume“ zitierte er mit Vorliebe: „Blau ist die Farbe deines gelben Haares. Rot ist das Girren deines grünen Vogels. Du schlichtes Mädchen im Alltagskleid, du liebes grünes Tier, ich liebe dir!“

Dass es ausgerechnet sein eigenes progressives Herz sein würde, das ihm mitten im Leben die Solidargemeinschaft aufkündigen sollte, damit konnte er nicht rechnen.

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